Das „Köln Concert“ von Keith Jarrett drohte ein riesiger Reinfall zu werden - und wurde ein legendärer Erfolg. Die Aufnahme beim Label ECM ist mit über vier Millionen verkauften Tonträgern bis heute das einflussreichste und meistverkaufte Klaviersoloalbum der Musikgeschichte. Frau Brandes, Sie waren damals 18 Jahre alt, noch Schülerin und veranstalteten Jazz-Konzerte in Köln. Wie kam es zum Auftritt von Keith Jarrett am 24. Januar 1975 in der Kölner Oper?
VERA BRANDES: Das war alles sehr kurzfristig. Wir hatten Anfang November des Vorjahres, darüber gesprochen und hatten großes Glück, dass es gelang, einen Termin im Tourneeplan von Keith zu finden, an dem ich die Kölner Oper bekommen konnte, denn ich wollte von vornherein, dass es ein Mitternachtskonzert wird.
Im Dezember, schätzungsweise sechs Wochen vorm Konzert, habe ich Manfred Eicher (Jarretts Produzent und Mitbegründer des Label ECM) getroffen und er sagte: „Du Vera übrigens, im September hat ja Dave Liebman mit seiner Band Lookout Farm bei dir gespielt und der Richie Beirach, den ich danach getroffen habe, der hat gesagt, der Bösendorfer auf dem er gespielt hat, war großartig, kann Keith auf diesem Bösendorfer spielen?“ Und ich habe gesagt: „Let me try!, Ich versuch‘s mal!“
Es handelte sich dabei um einen 290-Imperial-Konzertflügel der legendären Wiener Klavierfabrik Bösendorfer.
BRANDES: Ich habe sofort den Verwaltungsdirektor der Kölner Oper angerufen und gesagt, dass ich den Direktor der Volkshochschule bitten werde, dass er uns seinen Flügel leiht, weil Keith Jarrett darauf spielen will. Das bräuchte ich gar nicht, erklärte der Verwaltungsdirektor, weil die Stadt Köln genau zur gleichen Zeit sowohl für das Forum der Volkshochschule als auch für die Kölner Oper, das gleiche Instrument bei Bösendorfer bestellt hat. Ich sagte: „Das ja großartig. Vielen Dank, dann läuft ja alles wie verabredet!“
Keith Jarrett, der amerikanische Superstar, war damals in Deutschland noch nicht so bekannt. Das Köln Concert war Teil einer kleinen Tournee. Jarrett und Manfred Eicher fuhren gemeinsam mit Eichers Auto von Konzertort zu Konzertort. Am 24. Januar 1975 kamen sie erschöpft gegen Nachmittag aus der Schweiz in Köln an.
BRANDES: Wir sind dann zur Oper hinübergegangen, weil sich Keith ein bisschen einspielen wollte und kamen dort natürlich zu einer Zeit an (es war ein Freitagnachmittag), in der die Verwaltungsmitarbeiter der Oper alle schon im Feierabend waren und die diensthabenden Leute für die Opernaufführung an dem Abend noch nicht da waren. Die beiden haben dann den Flügel auf der Bühne inspiziert und konnten es nicht fassen.
Denn statt des bestellten Konzertflügels stand auf der Bühne ein ziemlich ramponierter Stutzflügel, wie er nur für Proben benutzt wird.
BRANDES: Ich habe nicht kapiert, was los ist, bis Manfred Eicher, nachdem er dreimal um das Ding rumgegangen ist, gesagt hat: „Also Vera, auf dem Instrument, sorry, aber da kann der Keith heute Abend nicht spielen! Und wenn du jetzt nicht irgendein spielbares Klavier hier hinstellst, dann müssen wir leider absagen.“
Wie haben Sie das denn gemacht?
BRANDES: Ich machte mich daran, jeden, der im Umkreis von 100 Kilometern irgendetwas mit Konzertflügeln zu tun hat, anzurufen, um zu schauen, wo ich einen Flügel herbekomme, den ich um 23 Uhr gestimmt auf der Bühne stehen haben kann. Das erwies sich natürlich als außerordentlich schwierig. Am Freitagnachmittag kriegst du A niemanden mehr an die Strippe, der überhaupt noch willens ist, irgendetwas zu tun, und B, was ich damals noch nicht wusste, sind Flügel nicht am gleichen Tag transportier- und stimmbar und ein Bösendorfer schon gar nicht. Es war vollkommen hoffnungslos. Und dann sah ich aus dem Fenster, dass mein Bruder mit dem Auto meines Vaters gerade dabei war, Keith ins Hotel zu fahren, und ich bin die Treppen heruntergerast, habe die Autotür aufgerissen, hinter der Jarrett auf dem Beifahrersitz saß und habe ihn dann überredet, dass er doch spielt.
Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass der bestellte Konzertflügel die ganze Zeit über in der unterirdischen Verbindung zwischen der Oper und dem Schauspielhaus gestanden hat.
BRANDES: Genau, weil das der Raum im gesamten Komplex war, der die konstanteste Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit hatte, also der ideale Aufbewahrungsort für so einen kostbaren Flügel. Das wussten aber die Transportleute nicht. Die Firma, die beauftragt worden war, hatte nur auf einem Zettel stehen: „Bösendorfer auf die Bühne!“ und die sind durch die ganzen Hinterzimmer der Oper und haben überall nach dem Instrument gesucht und einen anderen Flügel gefunden, der zufälligerweise auch ein Bösendorfer war, der im Umkleideraum des Damenchors gestanden hat, der war mit Sicherheit seit zehn Jahren nicht mehr gestimmt, seit 20 Jahren nicht mehr überholt aber es stand „Bösendorfer“ drauf. Und die haben ihn dann auf die Bühne geschleppt und Feierabend gemacht. Und der Stimmer und sein Sohn, den er herbeirief, die haben den Flügel dann so gut es ging repariert. Wie die das geschafft haben, wissen wir nicht. In meinen Augen waren die beiden die Helden des Abends.
Auch Sie sind eine Heldin des Abends und jetzt auch eine Filmheldin, denn die Entstehungsgeschichte des „Köln Concert“ wurde jüngst mit Starbesetzung - Mala Emde, John Magaro, Alexander Scheer und Ulrich Tukur - unter der Regie von Ido Fluk verfilmt. „KÖLN 75“ startet am 13. März in den deutschen Kinos, die Weltpremiere feiert der Film im Februar bei der Berlinale. Sie haben den Film, in dem Sie von der deutschen Schauspielerin Mala Emde verkörpert werden, bereits gesehen. Wie geht es Ihnen damit?
VERA BRANDES: Als die Dreharbeiten in Köln losgingen, habe ich mir extra ein paar Tage Zeit genommen, weil ich das wahnsinnig gerne erleben wollte. Ich musste aber dann doch relativ schnell abbrechen, weil in dem Moment, als ich das alles sozusagen wieder erlebt habe – hervorragend und wunderbar gespielt von Mala Emde – Szenen, in denen es um das Verhältnis von mir zu meinem Vater ging, so belastend waren, dass ich das nicht aushalten konnte. Aber jetzt, wo der Film in der fertigen Fassung vorliegt, kann ich es mir anschauen, denn jetzt sind die Szenen in das Geschehen eingebettet. Der Film ist fantastisch, sehr temporeich, ein sehr lebendiger Film, der das Lebensgefühl Mitte der 1970er Jahre sehr gut widerspiegelt.
Hand aufs Herz, Frau Brandes, können Sie das „Köln Concert“ überhaupt noch hören?
VERA BRANDES: Ich habe es ganz, ganz, ganz viele Jahre nicht hören können. Aber jetzt, 50 Jahre später und um viele Erkenntnisse reicher, kann ich es genießen. Es ist ein absolut großartiges Stück Musik. Jeder Ton. Natürlich auch, weil ich so damit verbunden bin. Es hat mit so vielen Menschen so viel gemacht. Es hat mit der ganzen Auffassung von Musik so viel gemacht. Es hat verändert, wie wir hören, was wir hören, wie wir uns bewegen lassen von Musik. Das ist ein Jahrhundertkonzert!

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