Die gewohnt heiter-schmissige Musical-Kost gibt es diesmal nicht in der Sommeraufführung des Staatstheaters Augsburg auf der Freilichtbühne am Roten Tor. Mit Andrew Lloyd Webbers „Evita“ wird es sogar ziemlich rührselig und sentimental - gleich in der Eingangsszene, wenn ein Trauerzug den Sarg der toten Evita Perón begleitet. Aber wer das nicht scheut, kann eine gelungene Aufführung erleben, die noch dazu eine für dieses Genre ungewöhnliche Brisanz enthält.
Evita war eine Influencerin
Wie man die Massen hinter sich schart, darauf verstand sich Eva Perón meisterhaft. Sie war eine Influencerin, ganz ohne Social Media und Internet. Ihre Follower: das Volk in Argentinien, dazu Bewunderer dieser Stil-Ikone in der ganzen Welt. Die Ehefrau des argentinischen Präsidenten, aufgestiegen vom Mädchen aus einfachen Verhältnissen zur einflussreichsten Frau ihres Landes, machte sich zum „Engel der Armen“, vertrat die Interessen der ausgebeuteten Arbeiter und Bauern - und hatte dabei immer das eigene Fortkommen fest im Blick, manchmal auch mit zweifelhaften Methoden.
Regisseur Florian Mahlberg muss dazu in seiner Inszenierung in Augsburg gar nicht zwanghaft aktualisieren, um beklemmende Anklänge an das Hier und Heute zu schaffen. Wie Politiker ihr Amt für die eigenen Interessen ausnutzen, dafür gibt es derzeit genug Beispiele. Wie dumm, dass man auch noch gewählt werden muss, um die Macht zu haben, tönt Juan Perón, der zuvor schon manchen Widersacher aus dem Weg geräumt hat - und aus dem Publikum hört man im kollektiven Aufseufzen die Assoziationen zu Trump, Putin und Co. Wie Personen, die bewundert, geliebt und heroisiert werden, zu ihrem Einfluss kommen und wie sie die Verehrung zum eigenen Vorteil (aus)nutzen, zeigt sich in Mahlbergs Inszenierung überdies. Denn im Hinblick auf die Wahlen kann sich Juan Perón ganz auf seine Gattin verlassen, die die Gunst des Volkes mit Empathie und Tatkraft zu gewinnen weiß. „Wein’ nicht um mich, Argentinien, ich habe dich nie verlassen in schweren Zeiten, trotz Not und Schmerzen, lass’ einen Platz mir in deinem Herzen“, singt sie in ihrer großen Hymne effektvoll im glitzernden Dior-Kleid vom Balkon herunter.
Eva Perón war ehrgeizige Karieristin und Aktivistin für die Rechte der Armen
Alles also nur Kalkül, Ehrgeiz und Machthunger bei Eva Perón? So einfach macht Mahlberg es sich - und seiner Hauptdarstellerin Katja Berg - nicht. Eva Perón ist nicht nur ehrgeizige Karrieristin, sondern auch um das Volk bemühte Aktivistin. Ihr früheres, unschuldiges Ich ist in der Inszenierung in dem vom Regisseur zugefügten Mädchen La Vida noch gegenwärtig und in stummer Zwiesprache mit der späteren Demagogin.
Katja Berg fächert mit Bravour die Facetten der Titelrolle auf und legt entsprechend Schmelz oder Stahl in ihre Stimme: die mädchenhafte Schauspielerin, die einfach nur raus aus der Provinz und frei sein will; die „Santa Evita“, die sich für die Rechte der Unterdrückten einsetzt; die machtbewusste Präsidentengattin, die schon mal Spendengelder verschwinden lässt; die Todkranke, die von ihrem Volk Abschied nimmt und gleichzeitig an ihrer Legende webt. Ihren Widerpart gibt Hannes Staffler als Che. Als lässiger Conferencier der zweieinhalbstündigen Aufführung - und nicht wie in anderen Inszenierungen als Freiheitsheld Che Guevara - kommentiert Staffler ihren Aufstieg sarkastisch und zynisch.

Und auch Alexander Franzen gibt dem skrupellosen Machthaber Juan Perón Kontur. Wie überhaupt gilt: Stimmlich ist die Augsburger „Evita“ hochkarätig besetzt, angefangen von den Solisten über den Opernchor bis hin zum Kinderchor der Musicalakademie Young Stage.
Das Ballett Augsburg wird zu knochenwackelnden Todesboten
Zum Schluss hin, wenn die dem Tod geweihte Evita noch einmal auftritt, tropft dann allerdings das Pathos gewaltig auf die Bretter der Freilichtbühne, auf denen zuvor durchaus leichtfüßiges Treiben herrschte. Vor der Kulisse einer Häuserfront mit verblichener Fassade und schiefen Dächern (Bühne Karel Spanhak) entfaltet sich vor allem in der ersten Hälfte Latino-Lebensart, die das Ballett Augsburg Tango und Samba tanzend zum Ausdruck bringt. Später werden die Augsburger Tänzerinnen und Tänzer dann eindrücklich zu Todesboten mit wackelnden Knochen (Choreografie Ricardo Fernando).
Farbe ins Geschehen bringt neben den authentischen Kostümen (Nora Johanna Gromer) in hohem Maße die abwechslungsreiche Musik Andrew Lloyd Webbers, zumal in der erstmals in Deutschland zu hörenden „Symphonic Version“. Ein großer Gewinn für die Aufführung, der nur durch den blechernen Lautsprecherklang ein wenig geschmälert wird. Die Augsburger Philharmoniker zeigen, verstärkt mit Schlagzeug, Keyboard und E-Gitarren und empathisch geleitet vom Zweiten Kapellmeister Sebastiaan van Yperen, ihre Wandlungsfähigkeit und beweisen sich als Opernorchester ebenso wie als Big- und Rockband oder Tangoensemble, dass es eine wahre Lust ist, dem zuzuhören.
Weitere Aufführungen bis 1. August
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