Herr Koopmann, Sie haben sich ein ganzes langes Forscherleben immer auch mit Thomas Mann auseinandergesetzt, 70 Jahre lang. Warum ist es Ihnen nie langweilig mit ihm geworden?
PROF. HELMUT KOOPMANN: Das lag nicht an mir, das lag an Thomas Mann. Er schreibt einfach so gut und so variationsreich, dass man nicht müde wird, ihn zu lesen. Das Beste, was er zu geben hat, ist seine Sprache, denke ich. Die ist unverwechselbar. Und er trifft eigentlich immer alles genau richtig. Bis auf ein paar Essays, bei denen ich das einschränken würde, das sind zum Teil Kriegserzeugnisse aus dem Ersten Weltkrieg.
Die „Betrachtungen eines Unpolitischen“?
KOOPMANN: Das ist schwer verdaubarer Stoff. Da drehte er sich um sich selbst. Am Anfang war die Kriegsbegeisterung bei ihm genauso groß wie bei anderen Leuten, bei den Intellektuellen und Professoren und den Dichtern. Am Ende war aus dem Kaisertreuen ein Republikaner geworden. Diese Wandlung hat er ein bisschen routiniert in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ beschrieben. So ganz nimmt man sie ihm nicht ab. Schließlich aber war er der überzeugte Demokrat und Republikaner, der er am Anfang mit Sicherheit nicht war.
Was hat Sie an der Figur Thomas Mann fasziniert? Der Mensch oder seine Werke?
KOOPMANN: Mehr die Werke als der Mensch. Der Mensch war nicht einfach, soweit man das den Berichten anderer entnehmen darf. Das Werk ist das, was ihn lebendig hält, nicht der Mensch. Die Werke sind zeitlos. Wenn man bedenkt, dass er 1975, als er gefeiert werden sollte, sozusagen entmonumentalisiert wurde, dass man da vielfach nichts mehr von ihm wissen wollte, dann zeigt das diesjährige Jubiläumsjahr, dass er doch weiterlebt.
Thomas Mann ist 1875 geboren, in der Hochphase des Kaiserreichs. Er hat den Ersten Weltkrieg erlebt. Er war in der Weimarer Zeit ein überzeugter Republikaner geworden. Er musste emigrieren. Nach dem Krieg ist er nicht mehr heimisch geworden in Deutschland. Ist sein Schaffen als Künstler ohne diese großen Umbrüche denkbar?
KOOPMANN: Es gibt viele Spuren seiner Zeiterfahrung in den Werken. Die erste große Spur ist im „Zauberberg“ gelegt. Thomas Mann kommt aus dem Gegensatz Frankreich gegen Deutschland, Zivilisation gegen Kultur, politische Demokratie gegen deutsche Geistigkeit heraus. Er revidiert seine frühen Kriegsschriften gründlich mit dem Ergebnis, dass nichts mehr für alle Zeiten gilt, sondern alles mehr oder weniger vorläufig ist. Dieser Versuch, herauszukommen aus den Wirrnissen der Kaiserzeit, ist fast die größte politische Tat in seinem Werk. Natürlich sind auch die Werke der Emigration gezeichnet von seiner Zeit in Amerika. Ich denke, das wird am deutlichsten im „Doktor Faustus“, wo er versucht, die Geschichte der deutschen Innerlichkeit zu schreiben, weil er der Meinung ist, dass das Böse schon lange angelegt war in Deutschland. Das hieß früher nur anders. Es hieß Romantik und hatte schöne, helle Ideen, aber das hat sich dann gewandelt ins Teuflische. „Doktor Faustus“ ist eines der großen Zeitzeugnisse. Ich denke aber auch an „Felix Krull“. Felix Krull lebt das Leben eines idealen Emigranten, der niemals so existiert hat. Er kommt überall heil durch. Er ist eine Zeit lang Liftboy. Und dieses schwebende Kämmerchen, wie es so schön bei Thomas Mann heißt, ist ein Symbol des Auf und Ab eines normalen Flüchtlings, der immer seine Schwierigkeiten hatte.
Wie hat es Thomas Mann hinbekommen, sich im reiferen Alter nach dem Ersten Weltkrieg als Mensch noch einmal neu zu erfinden?
KOOPMANN: Thomas Mann hat sich als Künstler immer für einen Repräsentanten gehalten. Er repräsentierte am Anfang mit diesen fürchterlichen Kriegsschriften das kaiserliche Deutschland, wenn man so will den Wilhelminismus mit seinem Größenwahn. Später repräsentierte er die Demokratie. Er hat schon sehr früh gesagt: Ich habe einen Hang zum Repräsentieren, und das galt bis zu seinem Ende.
Aber er rückt von seinen demokratischen Idealen mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus nicht mehr ab.
KOOPMANN: Da war er erbarmungslos. Die ersten drei Jahre hat er stillgehalten, aber das lag daran, dass der Fischer Verlag noch seine Bücher verkaufen konnte. Ihm lag natürlich an seinem Publikum. Als Fischer nach Wien zog, also nach Österreich, war es mit seiner Zurückhaltung vorbei. Da hat er schon kräftig gegen die Nazis angeschrieben. In Amerika ist er der gute deutsche Demokrat gewesen, bis die Amerikaner darauf kamen, dass er vielleicht ein bisschen zu liberal sei. Damals begann McCarthy mit der Jagd auf die Emigranten, weil McCarthy sie alle für Linke hielt. Darunter hat auch Thomas Mann gelitten. Aber er war so prominent, dass ihm nichts passiert ist.
Wie kam es zu dieser Entfremdung zwischen Thomas Mann und den Deutschen?
KOOPMANN: Es gab Leute, die ihn sehr stark angegriffen haben, schon 1945, weil sie sich sagten: Der hat ein Luxusleben geführt, während man in Deutschland unter den Bomben gelitten und in zertrümmerten Städten gelebt hat. Die Aversion war groß. Es gab nur wenige, die sich sofort für ihn eingesetzt haben.
Hat diese Reaktion Thomas Mann überrascht?
KOOPMANN: Er war enttäuscht. Er dachte: Meine Stimme ist die Stimme Deutschlands überhaupt. Er hat 1938 gesagt: Wo ich bin, ist die deutsche Kultur. Doch sein Verhältnis zu den Deutschen blieb schwierig. Er hat geglaubt, dass die Naziideologie noch nicht ausgetrieben worden sei. Er hielt viele für verkappte Nazis und war der Ansicht, dass Deutschland wieder den Weg einer Renazifikation beschreiten werde. Er hat von vornherein den Entschluss gefasst, nicht nach Deutschland zurückzukehren, sondern in die Schweiz. Die Schweiz war auch ein Muttersprachen-Land, in der Schweiz wollte er sein Lebensende beschließen. Der einzige große Bucherfolg nach dem Krieg war „Felix Krull“. Sein letzter Roman erschien 1954. Im Nu waren 80.000 Bücher verkauft. Darüber hat er sich selbst gewundert.
Wenn man Sie jetzt fragen würde, welches Buch von Thomas Mann man unbedingt lesen sollte ...?
KOOPMANN: Ich würde sagen: nicht „Buddenbrooks“. Die habe ich selbst erst sehr spät gelesen. Ich mochte diese Goldglanz-Geschichte nicht. In der Schule haben sie mich zur Lektüre zwingen wollen. Ich habe aus dem üblichen Widerstand der 18-Jährigen das abgelehnt. Ich hatte den Bombenkrieg in Bochum und die Flucht vor den Russen erlebt, „Buddenbrooks“ beschrieb nicht die Welt, die ich kannte. Mit jener wollte ich nichts zu tun haben. Als Student kam ich dann an den „Zauberberg“. Der hat mich fasziniert. Ich glaube, ich habe ihn zwanzigmal gelesen. Und ich könnte ihn noch zwanzigmal lesen.
Was lässt Sie immer wieder zum „Zauberberg“ zurückkehren?
KOOPMANN: Dort ist vieles angelegt, was später in seinem Werk wieder auftaucht. Thomas Mann hat 1951 einmal gesagt: „Der Roman auf seiner Höhe kann alles“. Das ist ein Wort, das ich auch auf den „Zauberberg“ beziehen würde. Wir finden dort seine Lebensphilosophie, dieses Abstandnehmen, dieses Relativieren der Dinge. Das hält sich das ganze Werk hindurch. Nichts ist mehr für immer zu nehmen, auch noch im „Felix Krull“ ist alles vertauschbar. Der Kellner könnte der Reiche sein, und der Reiche könnte der Kellner sein.
An seinem 78. Geburtstag spricht Thomas Mann übers Fernsehen zu den Deutschen und träumt von einem wiedervereinigten Deutschland …
KOOPMANN: … in einem Vielvölkereuropa.
Wie würde sich Thomas Mann heute äußern, wo dieser Wunsch Wirklichkeit geworden ist, aber von rechtspopulistischen Parteien jetzt wieder torpediert wird?
KOOPMANN: Thomas Mann würde sich äußern. Er hat nie den Mund gehalten, sondern immer Stellung bezogen.
Wie würde das Ihrer Meinung nach ausfallen?
KOOPMANN: Thomas Mann ist immer eingetreten für Liberalität, für Verständigung. Er hat so etwas wie eine Philosophie der Mitte entwickelt. Davon ist schon im „Zauberberg“ die Rede. Und Mitte ist für ihn auch ein politischer Begriff geworden, Deutschland als Mitte im positiven Sinne verstanden. Das hat er erträumt, aber selbst nicht mehr erlebt. Thomas Mann würde wahrscheinlich gegen den Rechtspopulismus angehen. Er würde auch angehen gegen die Materialisierung des Lebens, also gegen die Herrschaft des Kapitals, des Großkapitals. Nach dem Krieg hat er befürchtet, dass alle wieder auf ihre Stühle kommen würden, die Krupps usw. Dass das Kapital unter amerikanischem Einfluss die Welt regiert, das wollte er nicht. Sein Glaube war ein Glaube an die Macht der Kultur.
Herr Koopmann, wenn es die Möglichkeit gäbe, dass Sie noch einmal mit Thomas Mann sprechen könnten: Welche Fragen würden Sie ihm stellen?
KOOPMANN: Ich würde sagen: Sie haben ein großartiges Werk geschaffen. Sie sind der größte Stilist Ihres Jahrhunderts gewesen. Es gab nur zwei Phasen in der deutschen Literatur der neueren Zeit, in der ein so gutes Deutsch geschrieben wurde. Die eine war die Zeit Goethes und Schillers. Und die andere war die Zeit Thomas Manns. Da ist die Sprache auf eine einzigartige Höhe gekommen. Fragen würde ich ihn nichts. Was sollte er mir auch antworten? Es ist alles im Werk gesagt, was gesagt werden muss.

Zur Person
Helmut Koopmann, geboren 1933 in Bochum, kam 1974 als Ordinarius für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an die Universität Augsburg. Seit 2001 ist er emeritiert. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts. Koopmann gehört zu den großen Forschern über Thomas Mann. Unter anderem legte er den Band „Thomas Mann. Studien, statt einer Biografie“ (Königshausen & Neumann, 572 S., 49,80 €) vor.
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