Es gibt Bücher, die Geschichten erzählen, und es gibt Bücher, die werden selbst zur Geschichte. Einbände aus braunem Leder, darauf goldene Schnörkel zur Zierde, drei alte Bücher liegen in einem alten Holzschrank. Kay Reinhardt, ein Künstler aus Rott am Lech, hat diese Bände entdeckt – als er 2024 das alte, verwunschene Häuschen kaufte, in dem der Holzschrank im Wohnzimmer steht. Als er das erste Buch aufschlug, fand er Hinweise: ein Familienwappen mit Löwen, Bären und Krone auf Seite eins, dazu die Zahl 1707 als Jahr des Drucks. Das Buch ist auf Französisch verfasst und trägt den Titel: „L’âne d’or“. Es ist das römische Märchen vom „Goldenen Esel“. Reinhardt spukten die Bücher ab dieser Sekunde durch den Kopf: Woher kommen sie? Seine Recherche hätte zur jahrelangen Suche werden können, wäre da nicht ein Notizzettel in den Seiten gesteckt: „Andenken an Frankreich“, steht da in deutscher Schrift. „Organisiert im Schloss Boran sur Oise im September 42.“
„Organisiert“? Frankreich, 1942. Damals hielt die deutsche Wehrmacht das Land in ihrer Gewalt. Plünderte, mordete, deportierte. Reinhardt erinnert sich, was er sofort dachte: „Wer so ein Buch hat, der gibt es doch wieder zurück.“ Damit begann seine Forschung nach der Geschichte der Fundstücke. Die Spur führt ihn in die Zeit des Nationalsozialismus, zum Leben zweier französischer Kämpfer im Widerstand, bis in das Schloss Boran sur Oise – und wieder zurück. Die drei Bücher sind jetzt nach Frankreich zurückgekehrt, zur Familie, der sie gehörten. 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Warum nahm der NS-Soldat die Bücher aus Frankreich mit?
Kay Reinhardt nimmt Platz am Fenster seiner Dachgeschosswohnung: „Ich hatte selbst zwei Großväter, die in den Krieg mussten.“ Einer der beiden habe sogar noch die Schlacht von Verdun in Frankreich überlebt, im Ersten Weltkrieg. „Nach der Kriegszeit war er innerlich ein Wrack.“ Wenn Reinhardt davon erzählt, springt schnell ein Gefühl über, was er aus diesen Geschichten gelernt hat. „Es geht doch darum, die Erinnerung wach zu halten, solange es geht. Um Kriege zu verhindern.“ Reinhardt wuchs in Leipzig auf, hat in der DDR Geschichte studiert, später zog er nach Süddeutschland und fand seine Lebensaufgabe als Zeichner, als Musiker, aber auch Museumsleiter. Reinhardt, die Geschichte, die Bücher und der Frieden, alles findet zusammen im Juni 2024. Damals kauft er sich ein Reihenhaus, dicht am historischen Kloster Wessobrunn. „Mit komplettem Inventar.“
Hinter der Tür des weißen Hauses: schmale Flure, steile Treppen, ein Geruch von Jahrhunderten und – Feuchtigkeit. Das Haus will Reinhardt renovieren, bis hoch in den barocken Dachstuhl. Am Ende des Flurs liegt das Wohnzimmer, das er aber schon eingerichtet hat: ein runder Tisch, ein Sofa, ein Kachelofen im Winkel und Bilder an der Wand. Es sind Aquarelle von Künstlern aus der Familie, der das Haus einmal gehörte. Es ist die Familie eines Soldaten, der im September 1942 zur Kompanie gehörte, die das Schloss Boran sur Oise in Frankreich besetzte. Er nahm die Bücher. Wieso? Um sie später zu verkaufen? Um sie zu schützen? Die Frage beschäftigt Reinhardt, auch wenn er sie nicht mehr sicher klären kann. Nicht im Gespräch mit den Nachfahren der Familie, die bei der Recherche helfen, aber sich zurückhalten. Es war eine Familie von Malern, von Menschen mit Sinn für Kultur – „und vielleicht hat das die Bücher ja gerettet“, sagt Reinhardt.
Ein seltener Fall beim Thema Restitution: Kay Reinhardt engagiert sich als Privatperson
Der Künstler recherchierte, auch ohne Französischkenntnisse, übersetzte Texte mit der Hilfe von KI, suchte Kontakt zum Bürgermeister von Boran sur Oise. „Es hat sich ewig hingezogen.“ Hilfe fand er schließlich in seiner Heimatstadt Leipzig, bei der Deutschen Nationalbibliothek, kurz DNB.
Steht der Begriff „Restitution“ in den Schlagzeilen, dann meistens, weil es politisch brisant wird. Aber dieser Fall aus Wessobrunn? „Solche Fälle der Privatrestitution kommen wirklich nicht häufig vor“, sagt Emily Löffler von der DNB. Sie leitet in der Nationalbibliothek die Abteilung Provenienzforschung. Nach der Herkunft von Büchern zu forschen, das ist ihr Beruf. „Für öffentliche Einrichtungen gelten als Maßstab für den NS-Kontext die Washingtoner Prinzipien von 1998“, erklärt Löffler. Damit verpflichten sich staatliche Institutionen, Provenienzforschung zu betreiben und für NS-Raubgut faire, gerechte Lösungen zu finden. Wobei diese Erklärung nicht für den Fund auf dem Dachboden im Eigenheim gilt. Für solche Fälle gibt es kein Gesetz, das die Rückgabe regelt.
In Löfflers Postfach landete eines Tages die Anfrage von Kay Reinhardt. Sie half in diesem Fall vor allem als Vermittlerin: Auf der anderen, der französischen Seite informierte sie die Organisation CIVS, „Kommission für die Entschädigung der Opfer von Enteignungen“. So stellten sie Kontakt her – und Kay Reinhardt traf bei einem Videogespräch bald zum ersten Mal die Familie de Moustier. Die Nachfahren aus dem französischen Schloss.
Der Wert der Bücher? Reinhardt hat sich schlaugemacht, im Zentralen Verzeichnis Antiquarischer Bücher recherchiert – 1500 Euro in Summe. Aber darin liegt nicht der wahre Wert. Löffler weiß: „In vielen Fällen geht es gar nicht unbedingt nur um die Objekte selbst, sondern um das Zusammenführen von Geschichte.“ Und alle Enden dieser Geschichte finden jetzt wieder zusammen – am 7. Mai 2025.
„Einzigartige Freundschaftsgeste“: Künstler gibt geraubte Bücher zurück
Französisches Generalkonsulat in München. Im schönsten Raum haben sie heute drei Fahnen aufgereiht, die bayerische, die deutsche, die französische, und von einem Foto an der Wand lächelt Emmanuell Macron. Der Generalkonsul freut sich über die Rückkehr der Bücher, er spricht von einer „einzigartigen Freundschaftsgeste“. Kay Reinhardt Stimme zittert ein kleines bisschen vor Rührung, als er zu der kleinen, versammelten Runde spricht: „Alles, was zurückgegeben wird, erleichtert uns.“ Er sagt: „Frieden kommt von hier“ und klopft sich dabei zweimal auf die linke Brust. In den Sitzreihen hören ihm zwei Menschen aufmerksam zu: Philibert de Moustier und seine Schwester Sonia de Panafieu. Ihrer Familie, ihrem Vater und Großvater haben die Nazis damals das Schloss geraubt – und noch mehr. Philibert erklärt, dass seine Schwester die Historikerin der Familie ist. Und die Schwester ist vorbereitet, ihre Rede hält sie in deutscher Sprache: „Der fragile Friede, der heute in der EU herrscht, besteht aus engagierten Menschen wie Ihnen“, sagt sie und blickt zu Kay Reinhardt.
Sonia de Panafieu erklärt: „Mein ganzes Leben habe ich versucht, die Mechanismen der Barbarei, die die Menschen anrichten, zu verstehen.“ Einen Ordner mit Schwarz-Weiß-Fotos hat sie mit nach München gebracht, Bildfunde aus Archiven, die sie erst vor Kurzem entdeckt hat. Ein Dutzend Soldaten lächelt in die Kamera. Sie posieren in Wehrmachtuniform vor dem Schloss, vor den Stufen, wie die rechtmäßigen Hausherren. „Bei dem Anblick blieb mein Herz stehen“, erinnert sich Panafieu. Ihr Großvater und auch ihr Vater hatten noch versucht, sich zu wehren. Sie waren Teil der Résistance gegen die Besatzer. Sie blieben im Widerstand, bis die Nazis ihren Besitz nahmen und sie ins Konzentrationslager nach Deutschland verschleppten. Der Sohn überlebte knapp im Lager Neuengamme, der Vater starb.
Sie haben die Bücher wiedergewonnen und vielleicht einen neuen Freund. Philibert de Moustier lädt Kay Reinhardt ganz offiziell ein, nach Boran sur Oise, dort will der Schlossbesitzer ein Fest für ihn veranstalten. Die de Moustiers haben sich sogar gewünscht, dass Reinhardt in den alten Büchern unterschreibt mit seinem Namen. Er tat etwas anderes: Jetzt liegt ein Blatt in den Seiten, mit einer Zeichnung von Reinhardt. Ein Esel küsst eine Frau, eine Szene aus dem Märchen. Inschrift: „Der Goldene Esel kehrt heim nach Boran sur Oise“.
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