Wir könnten, wenn wir es richtig machten! Wir könnten die drohende Klimakatastrophe verhindern, uns vor als unheilbar geltenden Krankheiten schützen, wir könnten Kriege vermeiden. Wir könnten aber auch das Ende der Menschheit einläuten, wie wir sie kennen und mehr oder weniger schätzen, wenn wir es falsch machen. Vor 75 Jahren entwickelte Karl Jaspers in seinen geschichtsphilosophischen Betrachtungen „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ den Begriff der Achsenzeit, in der die geistige Grundlegung der gegenwärtigen Menschheit erfolgt sei. Folgen wir dem 1967 geborenen Historiker und Philosophen Yuval Noah Harari von der Hebrew University of Jerusalem und seinem Buch „Nexus“, dann leben wir heute in einer Weichenzeit, in einer Zeit der Weichenstellungen. Nur ist die Weiche viel dramatischer als die Achse. Deshalb schlägt Harari Alarm. Der Weichenpunkt ist nach ihm die Künstliche Intelligenz (KI).
In Nexus entwickelt der Autor, der mit seinem Buch „Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit“ einen Weltbestseller schuf, mit Detailfreude und beneidenswertem Überblick eine Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zu dieser Weiche. Er definiert in seiner glänzend geschriebenen und treffend übersetzten Darstellung die Schlüsselbegriffe wie Information, Wahrheit, Intelligenz, Populismus und Wirklichkeit, grenzt sie voneinander ab und beschreibt ihre Besonderheiten je nach Ort und Zeit, nach Art der Gesellschaft. Am gegenwärtigen Weichenpunkt tritt ein vollkommen neues Informationsnetzwerk auf den Plan, dessen Umgang mit bislang unvorstellbaren Datenmengen einerseits Problemlösungen ermöglicht und andererseits Gefahren für eine vom Menschen gestaltete und verantwortete Gesellschaft heraufbeschwört. Als ob die bisherigen Informationsmittel das so überzeugend vermieden hätten!
Yuval Noah Harari warnt vor KI-Zeitalter in "Nexus"
Harari sieht Gefahren für die Demokratie durch eine manipulierende Einflussnahme auf Menschen, die eigentlich gar keine Wahl mehr haben, weil sie durch die Verwischung von Wirklichkeit, Wahrheit und Information Entscheidungen treffen, die ihnen von Maschinen vorgegeben werden. Der Autor befürchtet das Ende von jeglicher Privatsphäre, wenn die millionenfache Überwachung durch Kameras, über die Smartphone-Benutzung, Onlinebanking oder Internetbestellungen zu Persönlichkeitsprofilen führen, die von Profiteuren ausgenutzt werden können. Die Dramatik dieser Entwicklung besteht darin, dass die KI schon jetzt und ständig zunehmend eigene Inhalte, eigene Zwecke, von menschlicher Intelligenz und Gefühlswelt abgeschnittene Inhalte acht Milliarden Menschen in Bruchteilen von Sekunden senden kann.
Harari beschreibt das sich selbst reproduzierende und sich weiterentwickelnde System der KI und er zählt aus der Vergangenheit Beispiele auf, wie schon durch „klassische“ Netzwerke ganze Bevölkerungen oder große Minderheiten zu Opfern wurden. Um wie viel größer seien die Gefahren einer totalen Überlassung der weltweiten Information an von Menschen nicht mehr kontrollierte Informationsplayer wie die KI. Diesen Gefahren stehen Gewinnmöglichkeiten für die Gesellschaft gegenüber, die das, was wir bisher nur andeutungsweise berechnen konnten, besser oder überhaupt lösen können.
Die Gefahren der KI bedrohen laut Harari die Menschheit existenziell
Gefahren und Gewinne dürfen nach Harari aber nicht miteinander verrechnet werden, weil die Gefahren der vom Menschen nicht mehr kontrollierten und sich selbst überlassenen KI-Entwicklungen die Menschheit existenziell bedrohen. Er schreibt: „Je mächtiger ein Netzwerk wird, desto wichtiger werden seine Selbstkorrekturmechanismen. Wenn eine Supermacht des Siliziumzeitalters über schwache oder gar keine Selbstkorrekturmechanismen verfügt, könnte sehr wohl das Überleben unserer Spezies und zahlloser anderer Lebensformen gefährden.“ Goethes „Zauberlehrling“ malte schon vor 200 Jahren die Gefahr an die Wand, dass wir uns von unseren eigenen Schöpfungen manipulieren lassen und, wenn wir das erkennen, könnte es schon zu spät sein.
Harari hält jedoch auch eine gute Nachricht für seine Leserinnen und Leser bereit: „Wenn wir Selbstgefälligkeit und Verzweiflung vermeiden, sind wir in der Lage, ausgewogene Informationsnetzwerke zu schaffen, die ihre eigene Macht in Schach halten. Um weisere Netzwerke zu schaffen, müssen wir sowohl das naive als auch das populistische Informationsverständnis aufgeben, unsere Unfehlbarkeitsfantasien ablegen und uns der harten und eher profanen Arbeit des Aufbaus von Institutionen mit starken Selbstkorrekturmechanismen widmen.“ Wir alle sind aufgefordert, die Politiker, die Institutionen und die Wissenschaftler an diese „profane Arbeit“ zu scheuchen.
Yuval Noah Harari: NEXUS Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz; aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn, Penguin Verlag, 655 Seiten, 28 Euro
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