Der Fachkräftemangel bringt ein Phänomen hervor, das es in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland so nicht gab: Auch ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können noch einmal beruflich neu anfangen, entweder mit einer weiteren Ausbildung oder durch Einarbeitung und Qualifizierung direkt beim neuen Arbeitgeber. Motivierte Quereinsteiger haben heute gute Chancen. Über ihren persönlichen Weg, Chancen und Risiken, finanzielle Aspekte und lernen trotz Familie hat unsere Redaktion mit einigen Quereinsteigern gesprochen. Heute stellen wir Pieter Weterings vor, der mit 45 Jahren eine Ausbildung zum Notfallsanitäter absolviert.
Bei Pieter Weterings ging es beruflich immer steil bergauf. Zuerst Ausbildung zum Industriekaufmann, dann setzte er ein Studium der Betriebswirtschaftslehre obendrauf. 26 Jahre lang stieg er auf der Karriereleiter eines Münchener Konzerns immer höher, wurde Einkaufsleiter, Bereichsleiter, leitete im Qualitätsmanagement globale Projekte. „Ich habe durch meinen Beruf die Welt bereist, trug Verantwortung und konnte viele Erfahrungen machen“, blickt der 45-Jährige aus Epfenhausen zurück.
Karriere machen, viel Geld verdienen und sich immer wieder in neue Aufgaben reinzufuchsen, das erfüllte ihn und ließ ihn auch in Kauf nehmen, dass der anspruchsvolle Job nur wenig Urlaub zuließ und der Schreibtisch trotz langer Arbeitstage nie leer wurde – bis die Firma fusionierte und ab sofort „amerikanische Spielregeln“ galten. Sprich: maximaler Profit, auch auf Kosten der Mitarbeitenden. „Menschen waren nur noch Kostenfaktoren“, fasst es Weterings zusammen. Bald wurde ihm bewusst, dass er in diesem System nicht mehr arbeiten wollte. Dennoch hielt er noch einige Zeit durch. Der Spaß an der Arbeit wurde jedoch immer weniger, der Reiz, immer weiter Karriere zu machen, ging zusehends verloren.
Eine dreijährige Ausbildung zum Notfallsanitäter begonnen
Da erinnerte sich Weterings daran, dass er einmal angetreten war, um zu helfen: Im Wehrersatzdienst war er beim Bayerischen Roten Kreuz tätig gewesen. 2012 sattelte er den 520-Stunden-Lehrgang zum Rettungssanitäter oben drauf und war ehrenamtlich im Landkreis Landsberg unterwegs. Als seine beiden Kinder die Schule beendeten und Ausbildungen antraten, war der Zeitpunkt gekommen: Wetering hängte den „Manager“ an den Nagel und begann eine dreijährige Ausbildung zum Notfallsanitäter. In seiner Klasse ist er ungefähr doppelt so alt wie die anderen und während er jetzt ins zweite Ausbildungsjahr einsteigt, ist sein ältestes Kind bereits im dritten. Schulisches Lernen empfindet er als anstrengend, die Einbußen beim Einkommen sind enorm. Dennoch weiß Weterings, dass er genau das Richtige gemacht hat. Der Beruf erdet ihn und seine Lebenserfahrung hilft ihm, auch mit schlimmen Situationen fertig zu werden.
Was nun zählt, ist die Kompentenz, aufgrund einer soliden Ausbildung in Notlagen helfen zu können – und nicht Gewinnmaximierung. „Wir werden auf alle Notfälle vorbereitet“, sagt Weterings. Einmal durch schulischen Unterricht in Schwabmünchen, aber auch auf der Lehrrettungswache im Kreisverband Landsberg sowie durch Ausbildungen in Kliniken, auch Kinderkliniken. Dort erlernen die angehenden Notfallsanitäter, die später einmal für den Rettungswagen verantwortlich sind, Tätigkeiten, die in verschiedenen Bereichen anfallen, wie zum Beispiel Narkose, Beatmen, Geburtshilfe oder die Medikamentengabe. Was normalerweise im Kreißsaal oder der Notaufnahme abläuft, muss er auf sechs Quadratmetern im Rettungswagen sicher beherrschen. Wie hoch die Ausbildung angesiedelt ist zeigt auch, dass sie mit einem Staatsexamen abschließt.
Schichtarbeit, eine 48-Stunden-Woche, durchschnittlich alle 100 Minuten ein Einsatz, belastende Situationen bei Unfällen oder anderen Notfällen – Pieter Weterings sieht das nicht als Nachteil. Menschen helfen zu können und etwas Gutes zu tun, zählen für ihn mehr. Und das Gefühl, dass jeder Tag auf der Rettungswache neu beginnt und sich nicht wie früher Berge von Arbeit auf dem Schreibtisch türmen. Dass das Konzept des beruflichen Neuanfangs funktioniert, liege auch an der Unterstützung der Familie. Diese trage den großen Schritt mit und toleriere, dass Lernen am Abend und an den Wochenenden Vorrang vor Freizeitaktivitäten hat.
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