Am Dienstag geht die Schule wieder los und für viele Erstklässler beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Waltraud Dörre, 1940 geboren, hat ihre Kindheit im Vorderen Anger in Landsberg verbracht und erinnert sich noch gut an ihr erstes Schuljahr, das von der Not der Nachkriegszeit und dem außerordentlichen Engagement ihrer Lehrerin geprägt war.
Waltraud Dörre wurde ein Jahr nach Kriegsende, 1946, eingeschult. 1940 war ein geburtenreicher Jahrgang gewesen, zudem kamen nicht nur einheimische, sondern auch viele Flüchtlingskinder in die Schule. In großem Kontrast dazu stand jedoch der Mangel an Lehrkräften, denn viele der männlichen waren im Krieg gefallen, in Kriegsgefangenschaft geraten oder verwundet heimgekehrt und noch dienstuntauglich.
Waltraud Dörre besuchte die Mädchenschule am Klostereck in der Hubert-von-Herkomer-Straße. Ihre Klasse, die 1b, hatte eine Stärke von 62 Schülerinnen. Unterrichtet wurde sie von der Lehrerin Winfried Pfeffer, die zudem eine weitere Klasse, die 1a mit 61 Schülerinnen, am Nachmittag unterrichten musste, da eine Lehrkraft während des ersten Schuljahres ausfiel. „Fräulein Pfeffer war meine Klassenlehrerin während meiner gesamten Volksschulzeit, und sie hätte für ihren Einsatz wahrlich einen Orden verdient“, lobt Dörre.
Aber die Klassenstärken waren nicht die einzigen Probleme, die die Lehrerin zu bewältigen hatte. „Wir hatten keine Schulbücher. Die waren bei Kriegsende alle verbrannt worden wegen eventueller Naziparolen und Hakenkreuze, und neue waren noch nicht gedruckt“, erinnert sich Dörre. So mussten sich jeweils drei Kinder ein Lesebuch während des Unterrichts teilen und dazu zu dritt in einer Bank sitzen. „Nach dem Unterricht wurde das Buch wieder eingesammelt.“ Auch Hefte fehlten, sie waren zu teuer. Deshalb schrieben die Mädchen mit dem Griffel auf eine Schiefertafel. Zuhause wurde das Geschriebene mit dem Schwamm abgewischt, damit Platz für die Hausaufgabe war. Am nächsten Schultag wurde diese wiederum abgewischt, um Platz für den Unterrichtsstoff zu schaffen.
Die Landsberger Kinder lernten viel auswendig
„Wir lernten still zu sitzen und mit verschränkten Armen genau zuzuhören, denn wir hatten daheim ja keine Hefte und Bücher um nachzulernen. Auch haben wir viel auswendig gelernt und so unser Gedächtnis geschult“, berichtet Waltraud Dörre. Damals wurde von den Kindern verlangt, zu gehorchen, Rücksicht zu nehmen und sich diszipliniert zu verhalten. „Anders wäre der Unterricht nicht möglich gewesen“, so Dörre: „Musste jemand zur Toilette, hob er zwei Finger und verließ nach Kopfnicken der Lehrerin leise das Zimmer, um den Unterricht nicht zu stören.“
Dörre erinnert sich auch noch an den Turnunterricht. Dieser fand auf einer Wiese statt, denn die durch die amerikanischen Besatzer beschlagnahmte Turnhalle in der Lechstraße war abgebrannt. Im Gedächtnis geblieben ist ihr zudem, dass viele Mitschülerinnen weite Schulwege hatten, die sie zu Fuß und mit schlechtem Schuhwerk zurücklegen mussten. „Im Winter und bei Regenwetter standen um den Kachelofen im Klassenzimmer lauter durchnässte Schuhe zum Trocknen.“
Schlimm war der Mief im Klassenzimmer: Aufgrund der oft prekären Wohnverhältnisse mangelte es bei vielen Kindern an Körperhygiene. Zudem gab es wenig und oft schwerverträgliche Kost zu essen. Durch die Verdauungsstörungen entstanden Blähungen, deren Gestank sich mit dem Geruch ungewaschener Körper und Kleidung vermischte. „Unsere Lehrerin ließ nach jeder Stunde die Fenster weit öffnen und uns ein Lied singen, damit unsere Lungen frische Luft einatmeten“, so Dörre, die das Glück hatte, in einer gutbürgerlichen Familie aufzuwachsen, in der jeden Samstag in der Waschküche gebadet wurde. „Doch es gab auch diejenigen, die das nicht hatten: Flüchtlinge, Ausgebombte und Familien, deren Wohnraum von den Amerikanern beschlagnahmt worden war. Manche wohnten in Baracken oder mit der ganzen Familie in ein oder zwei Zimmern“, berichtet Dörre. Die unhygienischen Verhältnisse begünstigten den Lausbefall und immer mehr Schülerinnen mussten sich die Zöpfe abschneiden lassen. Viele wurden krank und steckten andere an. So fehlte auch die kleine Waltraud 49 Schultage in der ersten Klasse: „Es ist mir bis heute ein Rätsel, wie es möglich war, dass ich trotzdem mein Pensum gelernt habe.“
Die amerikanischen Soldaten spendierten Schokoriegel mit Nüssen
Als großes Glück bezeichnet es die Landsbergerin, dass die Stadt zur amerikanischen Zone gehörte. Die kinderlieben Besatzer spendierten eine Schulspeisung, die im Pfarrhof zubereitet wurde und in großen Blechkannen ins Klassenzimmer kam. Es gab oft Haferschleim oder Erbswurst- Suppe und manchmal zur größten Freude „Nuts“, Schokoriegel mit Nüssen. Alle Kinder hatten ihr Töpfchen und einen Lappen am Schulranzen hängen. Nach dem Essen belagerten 60 Kinder den kalten Wasserhahn, um ihr Gefäß zu säubern.
Dörre empfindet ihre Kindheit trotz aller Widrigkeiten als glücklich, „und wir hatten viele Freiheiten, da unsere Eltern kaum Zeit hatten, sich um uns, geschweige denn um unsere Schulaufgaben zu kümmern.“ Spielkameradinnen gab es jede Menge, mit denen man „Hupf Häusl“, Ball spielen oder Seilspringen konnte. Bei einem Klassentreffen in späteren Jahren stellte sie fest, dass fast alle ihr Leben ganz gut gemeistert hatten. „Ich weiß, dass wir unserer Lehrerin Winfried Pfeffer enorm viel zu verdanken haben. Sie hat fast Unmenschliches geleistet,“ schließt Waltraud Dörre ihren Rückblick ab.
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