Von Grenzgängern und der EU - Wie geht es mit der Schweiz weiter?
Die Schweiz ist stolz auf ihre Traditionen. Dazu gehört die Volksabstimmung. Nun hat das Volk wieder gesprochen und halb Europa ist entrüstet. Warum eigentlich?
7 Uhr morgens. Oliver Römlein steht am Bahnhof in Konstanz am Bodensee, zieht an seiner Zigarette und wundert sich überhaupt nicht. Doch, doch, die Kollegen drüben in der Schweiz, wo der Computerfachmann arbeitet, mit denen komme er schon gut aus, sagt er, sehr gut sogar. Aber in den Jahren als nachbarschaftlicher Gastarbeiter gab es halt auch negative Erlebnisse. „Simple Sachen“ nennt das der 45-Jährige, eine abgebrochene Antenne am Auto, ein zerstörter Außenspiegel. „Das darf man nicht verallgemeinern. Das sind die gleichen Ressentiments gegen Ausländer, die es in Deutschland gibt.“ So sei es eben zu diesem Ergebnis gekommen bei der Volksabstimmung am Sonntag. Verwunderlich, wie gesagt, sei das nicht.
Multi-Kuli in der Westschweiz ein alltägliches Bild
7 Uhr morgens. Gare de Cornavin, quasi der Hauptbahnhof von Genf. Tausende Männer und Frauen im dunklen Business-Dress steigen aus den Zügen und eilen in ihre Büros. Schweizer, Franzosen, Deutsche, Briten, Italiener. Hier in der Westschweiz, in der Stadt mit der Dependance der Vereinten Nationen, ist der Ausländeranteil im Vergleich zum Rest des Landes besonders hoch. Und die Zustimmung zur Anti-EU-Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ mit am niedrigsten gewesen. Vielleicht drehen sich an diesem Morgen unter den Berufstätigen deshalb so viele Fragen um die möglichen Folgen der Volksabstimmung. Fragen wie: Wird jetzt die brummende Wirtschaft der Eidgenossenschaft leiden? Schneiden sich die Schweizer ins eigene Fleisch?
Glaubt man den führenden Industrieverbänden wie Economie Suisse, dann sind in der Tat negative Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort zu befürchten. Die Europäische Union, heißt es, werde sich nicht von der kleinen Schweiz vorführen lassen. Da wird es auch wenig nützen, dass die Eidgenossenschaft mehr als eine Milliarde Euro zum Aufbau der östlichen EU-Staaten zuschießt oder den Europäern als Transitland dient.
Die Schweiz ist kein Mitglied der EU, aber eng mit ihr verbunden. Im Fachjargon nennt man dies „assoziiert“. Nach dem Freihandelsabkommen von 1972 entstanden 120 bilaterale Verträge, die bestimmte Bereiche regeln. Die Abkommen sichern der eidgenössischen Wirtschaft den Zugang zum EU-Binnenmarkt und die Zusammenarbeit bei Forschung, Sicherheit, Asyl, Umwelt und Kultur. 1999 unterzeichnete die Schweiz ein Paket von sieben Abkommen mit der EU, die „Bilateralen I“. Wichtigster Teil ist die Personenfreizügigkeit; das heißt, die Arbeitsmärkte wurden schrittweise geöffnet.
Rund 270000 Europäer pendeln ins Nachbarland
Nun verlangt die Initiative der rechtsnationalen Schweizerischen Volkspartei (SVP), die hinter der Abstimmung am Sonntag steht, dass das Abkommen über die Personenfreizügigkeit neu verhandelt wird. Mit dem Ziel, binnen drei Jahren Kontingente und Obergrenzen für den Zuzug von Einwanderern festzulegen. Das würde dann nicht nur Asyl suchende treffen, sondern auch Grenzgänger. Bislang sind das rund 270000 Europäer, vor allem Deutsche und Italiener, die täglich zur Arbeit in die Schweiz fahren.
Leute wie Anna Alt. Die Saarländerin ist der Liebe wegen an den Bodensee gezogen und arbeitet in der Schweiz als OP-Schwester. Jeden Morgen fährt sie von Meersburg aus mit der Fähre nach Konstanz und weiter nach Münsterlingen. Eine gute halbe Stunde braucht sie dafür. Sie fühle sich wohl in der Eidgenossenschaft, sagt sie, mit ihren Kollegen komme sie gut aus. „Ich glaube auch nicht, dass sie mit Ja gestimmt haben.“ Jetzt, wo das Ergebnis auf dem Tisch liegt, sei sie doch überrascht. Sie habe noch nie negative Reaktionen darauf bekommen, dass sie Deutsche sei. Dann sagt sie noch: „Ich kann das gar nicht verstehen.“
Kommt es so, wie die SVP sich das vorstellt, dürfte die Rekrutierung von Fachkräften wie Anna Alt nicht mehr so einfach laufen wie bisher. Dazu muss man wissen: Sobald eines der sieben Abkommen gekippt wird, können auch die anderen Verträge nicht bleiben. So hat man das mal vereinbart. Im EU-Jargon heißt das „Guillotine-Klausel“.
Der Verwaltungsratspräsident des Pharma-Unternehmens Galenica, Etienne Jornod, sagt der Berner Zeitung: „Wir gehen davon aus, dass sich ausländische Bewerber nun zweimal überlegen, ob sie ein Stellenangebot hier annehmen oder nicht.“ Der Direktor des Gewerbeverbandes, Hans-Ulrich Bigler, sieht sogar die Gefahr, dass große Firmen wie Google abwandern, weil sie keine Fachkräfte mehr finden.
Ein Anziehungspunkt für Top-Qualifizierte
Bislang war die Schweiz ein Magnet für Hochqualifizierte aus dem übrigen Europa, besonders aus dem deutschsprachigen Raum. So leitet der frühere Präsident der Deutschen Bundesbank, Axel Weber, den Verwaltungsrat der größten Schweizer Bank UBS. Oder Peter Brabeck-Letmathe, der Österreicher, der seit Jahren an der Spitze des Nahrungsmittel-Multis Nestlé steht.
Deutsche finden sich auch in der Hotellerie, in Krankenhäusern, als Ärzte und Pfleger, sie verdienen ihr Geld als Ingenieure oder Busfahrer. „In vielen Branchen kommt man ohne die deutschen Fachkräfte nicht mehr aus“, sagt Fritz Burkhalter, Chef des Swiss German Club.
Gleichzeitig fürchten Schweizer Firmen, dass Brüssel ihnen den Zutritt zu den europäischen Märkten erschweren könnte. Die Abkommen mit der EU machen den Export einfacher. Die Schweiz verdient nach eigenen Angaben jeden dritten Franken im Austausch mit der EU. Und: Jeder dritte Arbeitsplatz lebt vom Handel mit Europa, heißt es bei den Wirtschaftsverbänden.
Ängste noch und nöcher. Kritik noch und nöcher. Warum eigentlich? – solche Fragen gibt es auch. Der Ausländeranteil in der Schweiz sei mit 23 Prozent – in Deutschland neun – doch exorbitant hoch. Und was ist mit dem Volkswillen, heißt es, dem wenn auch mit 50,3 Prozent knapp ausgefallenen demokratischen Votum? Roger Köppel, Chefredakteur der konservativen Weltwoche, spricht von einer „Unsitte übelster Art“, wie auf die Schweiz eingedroschen werde. EU-Politiker wie Parlamentspräsident Martin Schulz „machen das, weil es ein Riesenproblem für die EU ist, wenn das demokratischste Land Europas dieses Abkommen ablehnt“. Weil dieser Mechanismus um die Personenfreizügigkeit nicht funktioniere. „Das bringt doch einen großen Druck auf die EU“, sagt Köppel.
Schweizer sehen sich nicht als ausländerfeindlich
„Aber“, findet wiederum Beat, Filialleiter in einer eidgenössischen Metzgerei, „das heißt nicht, dass wir Schweizer ausländerfeindlich sind. Wir wollen es nur regulieren, damit es nicht überhandnimmt.“ Der 34-Jährige setzt neben den Schweizern auch auf deutsche und österreichische Kunden. „Sie sind sehr offen“, sagt er. „Und sie bringen Geld.“ Wenn es allerdings um die Zuwanderung geht, hält Beat eine Begrenzung für sinnvoll. Sonst drohten der Schweiz negative Folgen – Lohndumping etwa und steigende Arbeitslosigkeit. Um rund 80000 Menschen wächst die Schweiz jährlich durch die Einwanderer. „Ich möchte, dass die Bundesräte die Abstimmung ernst nehmen und darauf reagieren.“
Ein paar Meter weiter steht Franziska Baumann, eine junge Mutter. Ob sie denn keine Angst vor wirtschaftlichen Folgen für ihr Land habe. „Da“, sagt die 28-Jährige, „habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“ (mit dpa)
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