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Viktor Frankls Rückkehr nach Türkheim: Eine bewegende Begegnung im Leid

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Im Leid verbunden: Viktor Frankl und die Türkheimer Bevölkerung     

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    1979 lud Viktor Frankl einige hilfsbereite Türkheimerinnen und Türkheimer in die von Familie Frommelt betriebene Gaststätte „Zur Eisenbahn“ ein. Auf dem Foto ist nur ein Teil der Gäste zu sehen. Von links: Centa Rinninger, Emma Doch, Elly Frankl, Hildegard Zweig, Amalie Rinninger, Daniel Zweig, Pfarrer Johann Keppeler und Viktor Frankl.
    1979 lud Viktor Frankl einige hilfsbereite Türkheimerinnen und Türkheimer in die von Familie Frommelt betriebene Gaststätte „Zur Eisenbahn“ ein. Auf dem Foto ist nur ein Teil der Gäste zu sehen. Von links: Centa Rinninger, Emma Doch, Elly Frankl, Hildegard Zweig, Amalie Rinninger, Daniel Zweig, Pfarrer Johann Keppeler und Viktor Frankl. Foto: privat

    Der weltberühmte Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, Viktor E. Frankl, war vom 8. März 1945 bis zur Befreiung am 27. April 1945 Häftling des KZ bei Türkheim. Zeitzeugen erinnern sich auf berührende Weise, wie er 1979 nach Türkheim zurückkam und aus Dankbarkeit einige hilfsbereite Türkheimerinnen und Türkheimer zu einem besonderen Essen einlud.

    Der 1905 geborene und 1997 in Wien gestorbene Viktor E. Frankl war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien und Professor für Logotherapie unter anderem in San Diego, Kalifornien. Insgesamt musste er drei Jahre lang in vier Konzentrationslagern viel Leid erfahren, dennoch schaffte er es, sich auf den Sinn seines Lebens zu konzentrieren und zu überleben. Die 1946 in seinem Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ veröffentlichten Erinnerungen an diese Zeit haben bereits Millionen von Leserinnen und Lesern berührt. In Türkheim sagte er später einmal: „Meine Geburtsstadt ist Wien, aber Türkheim ist die Stätte meiner Wiedergeburt.“

    1985 kam Viktor Frankl anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers nach Türkheim und hielt eine bewegende Rede. Auf dem Foto von links: Elly Frankl, Elisabeth Lukas, Viktor Frankl und Pfarrer Herbert Kessel.
    1985 kam Viktor Frankl anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers nach Türkheim und hielt eine bewegende Rede. Auf dem Foto von links: Elly Frankl, Elisabeth Lukas, Viktor Frankl und Pfarrer Herbert Kessel. Foto: privat

    Nach den Konzentrationslagern Theresienstadt und Auschwitz wurde Viktor Frankl nach Kaufering III, einem Außenlager des KZ Dachau, transportiert, wo er monatelang auszehrende Erdarbeiten verrichten musste. Als im KZ Türkheim eine Fleckfieberepidemie ausbrach, meldete er sich freiwillig als Arzt und wurde am 8. März 1945 nach Türkheim gebracht. Mit der ärztlichen Leitung der dortigen Fleckfieber-Baracke betraut, erkrankte er bald selbst. Um keinem Gefäßkollaps zu erliegen, hielt er sich nachts auf ganz besondere Weise wach, wie in seiner Veröffentlichung „Was nicht in meinen Büchern steht“ zu lesen ist. „Zu meinem 40. Geburtstag hatte mir ein Kamerad einen Bleistiftstummel geschenkt und ein paar winzige SS-Formulare herbeigezaubert, auf deren Rückseite ich nun - hoch fiebernd - stenographische Stichworte hinkritzelte, mit deren Hilfe ich die „Ärztliche Seelsorge“ eben zu rekonstruieren gedachte.“ Das bereits erstellte Manuskript seines heute berühmten Buches hatte er in seine Manteltasche eingenäht und in Auschwitz verloren. Frankl war überzeugt, dass zu seinem eigenen Überleben nicht zuletzt seine Entschlossenheit beigetragen hatte, das Manuskript zu rekonstruieren. 1946 veröffentlichte er sein Buch „Ärztliche Seelsorge“, das zum vollen Erfolg wurde.

    Im Leid verbunden waren in der Nacht der Befreiung, ohne voneinander zu wissen auch Viktor Frankl und Zeitzeuge Max Keppeler, der voller Angst Panzer und Geschosse von diesem Kellerfenster aus beobachtete.
    Im Leid verbunden waren in der Nacht der Befreiung, ohne voneinander zu wissen auch Viktor Frankl und Zeitzeuge Max Keppeler, der voller Angst Panzer und Geschosse von diesem Kellerfenster aus beobachtete. Foto: Kathrin Elsner

    In neun Tagen und neun Nächten diktierte er bald darauf sein Buch „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“, das er später in „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ umbenannte. Obwohl in diesem Buch der Markt Türkheim nicht namentlich genannt wird, erkannte der heute 90-jährige Türkheimer Johann Keppeler, der zu dieser Zeit Pfarrer in Nördlingen war, im Sommer 1978 bei der Lektüre dieses Buches seine Heimat wieder. „Dann gehst du eines Tages, ein paar Tage nach der Befreiung, übers freie Feld, kilometerweit, durch blühende Fluren einem Marktflecken in der Umgebung des Lagers zu“, schildert Frankl seine Eindrücke. Pfarrer Keppeler habe sofort folgenden Gedanken gehegt, erinnert er sich: „Das ist der Blick vom KZ, vom Wald aus nach Türkheim hinein“. Diese Erkenntnis habe ihn so beschäftigt, dass er einen Brief an Viktor Frankl, Universität Wien, schrieb und einige Zeit später tatsächlich einen Anruf von Frankl persönlich erhielt, der ihm seinen Gedankengang bestätigte. Wenn er sich recht erinnere, habe Viktor Frankl im Telefonat gesagt, dass er wieder einmal nach Türkheim kommen möchte. Fakt ist, dass Pfarrer Johann Keppeler sich immer wieder mit dem damaligen Türkheimer Pfarrer Herbert Kessel über Frankl und seine Logopädie austauschte, und es in der Folgezeit zu einem Briefwechsel zwischen Viktor Frankl und Herbert Kessel kam.

    Viktor Frankl lud Türkheimerinnen und Türkheimer ein

    Auf einen im Privatarchiv Viktor Frankl befindlichen berührenden Brief von Emma Dolch, wir berichteten, antwortete Viktor Frankl ihr wenige Tage später im Juli 1979, dass er mit Herrn Pfarrer (Kessel) seinen Plan besprochen habe, „ihn, Sie, Frau Rinninger, Frau Keppeler und deren Sohn, den Herrn Dekan aus Nördlingen, irgendwann im Frühherbst als meine Gäste in einem schönen Gasthof oder einem guten Restaurant zur Tafel zu bitten, um miteinander plaudern zu können.“ Gerne hätte er auch den damaligen Lagerleiter Karl Hofmann begrüßt, dieser lebte jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Hofmann war er unter anderem für die insgeheime Beschaffung von Medikamenten für die Lagerinsassen aus eigener Tasche dankbar. Ende 1979 war es tatsächlich soweit. Viktor Frankl lud etliche Türkheimerinnen und Türkheimer, die Häftlingen geholfen hatten, in die von Familie Frommelt betriebene Gaststätte „Zur Eisenbahn“ ein, auch Pfarrer Johann Keppeler gehörte zu den Gästen. „Ich hatte einige Bücher von Viktor Frankl dabei und habe sie signieren lassen“, erinnert er sich, mit wenigen Strichen habe der Professor noch eine charakteristische Zeichnung hinzugefügt. „Frankl war offenbar sehr dankbar für alle, die in aller Einfachheit geholfen hatten“.

    Das kann auch die heute 82-jährige Proffessorin Elisabeth Lukas bestätigen, die als bekannteste Schülerin Viktor Frankls gilt und bis zu seinem Tod eine gute Freundschaft mit ihm pflegte. Viktor Frankl sei mit seiner Frau Elly mit der Bahn nach München angereist, von dort aus brachte Ehepaar Lukas die beiden nach Türkheim und wohnten der berührenden Begegnung mit den hilfsbereiten Türkheimerinnen und Türkheimern bei. „Er wollte sich bedanken, weil er nach seiner Befreiung aus dem KZ durch texanische Soldaten wie die anderen Häftlinge halb verhungert in der Gegend herumirrte und die Leute den Häftlingen mit Essen geholfen haben“. Er habe Menschen, an die er sich noch erinnern konnte oder aus diesen Familien abstammten, zu einem Essen eingeladen und mit ihnen gesprochen. Auch der Pfarrer des Ortes (Herbert Kessel), der ihrer Erinnerung nach das Treffen organisiert hatte, sei mit dabei gewesen. „Auf jeden Fall war es ein sehr bewegendes Ereignis“, erzählt Elisabeth Lukas liebevoll.

    Die Hilfsbereitschaft der Türkheimer war erkennbar

    In zu Herzen gehenden einfachen Worten habe er seine Ansichten dargelegt und vermittelt, dass man im Leben, auch wenn das Schicksal noch so hart zuschlägt, immer noch kleine Freiräume hat, winzige kleine Möglichkeiten, selber irgendetwas zu entscheiden. Frankl habe erzählt, dass die texanischen Soldaten bei der Befreiung einfach nur das Tor des Konzentrationslagers aufmachten, damit die Häftlinge hinaus konnten. Die nahe am Sterben gewesenen Häftlinge hätten sich dann irgendwo in der Landschaft herumgeschleppt, hier sei eine Hilfsbereitschaft bei den Leuten doch erkennbar gewesen. „Man sagt so oft, dass viele weggeschaut haben, was da alles passiert ist, dass da auch eine Schuld bei der Bevölkerung ist, aber Frankl hat herausgestrichen, dass auch eine Hilfsbereitschaft da war, dass es sicher beides gab.“ Zeit seines Lebens hat Viktor Frankl seine starke Erkenntis vertreten, dass es keine Kollektivschuld gibt, wie auch seine 1985 zum 40. Jahrestag der Befreiung in Türkheim gehaltene Rede zeigt. Schuld könne nur derjenige sein, der selbst etwas getan hat, sagte er damals.

    Weiter betonte er, man möge doch Verständnis dafür haben, dass damals Vieles unterlassen wurde, da die Menschen um ihr eigenes Leben und das ihrer Familie bangen mussten. Dass sich manche Menschen darüber hinwegsetzten und sich lieber selbst ins Konzentrationslager bringen ließen, als sich untreu zu werden oder Kompromisse einzugehen, sei schlicht Heroismus. Frankl habe immer gesagt, dass im Menschen alles drin sei, Engel und Teufel, erinnert sich Elisabeth Lukas, welche Seite herauskomme, bestimme der Mensch immer selbst in der jeweiligen Situation. „Ich glaube in dieser Zeit, wo alles zusammengebrochen ist nach dem Krieg, da haben sich die Leute wieder auf menschliche Werte besonnen, und das hat die Bevölkerung und die jüdischen Häftlinge irgendwie wieder zusammengebracht.“ Gerade deshalb sei das Zusammentreffen von Viktor Frankl und einigen hilfsbereiten Türkheimerinnen und Türkheimern eine bewegende Stunde gewesen. Auch, da die Menschen von ihrer eigenen Not erzählten. „Es haben ja nicht nur die Menschen im KZ gelitten, alle haben im Krieg gelitten“, betont Elisabeth Lukas und erinnert an die vielen gefallenen Männer, Väter, Söhne und Brüder. „Es war da eine Verbundenheit im Leid, eine Solidarität der leidenden Menschen war zu spüren.“

    Von dem erfahrenen Leid kann auch der Türkheimer Zeitzeuge Max Keppeler noch erzählen. Wie heute erinnert sich der heute 88-Jährige an den Tag, als sein Vater Ende März 1945 mit etwa 50 Jahren zum Volkssturm musste, um einen Flugplatz in Landau an der Isar zu bewachen. „Am Gründonnerstag hat mein Vater einrücken müssen, das war ein trauriger Tag für mich und meine Familie“. Fliegeralarm habe zum Leben immer wieder dazugehört. „Wenn während der Schule Fliegeralarm war, sind die Kinder nach Hause geschickt worden“, erinnert er sich, für die Kinder aus Türkheim Bahnhof und Berg sei der Weg jedoch zu weit gewesen, weshalb sie zum Schutz in den Keller der Schule geschickt wurden. „Da hat´s manchmal von den Klosterfrauen was zu Essen gegeben“, erzählt er und lächelt, frischen Salat hätten sie dann aus einer gemeinsamen Schüssel mit „Vaters Gabel“, also mit den Fingern, genossen. Die Sirene der Gemeinde habe man in Türkheim Bahnhof oft nicht gehört und wenn doch, habe man, wenn zeitlich möglich, im Luftschutzkeller des Bahnhofsgebäudes Schutz gesucht.

    Diese Zeit blieb eines Tages bei einem Tiefflieger-Angriff auf die abgestellten Dampflokomotiven nicht mehr. „Wir sind in unseren Keller, ich kann mich noch gut erinnern“. Wie heute erinnert sich Max Keppeler auch noch an die Nacht der Befreiung durch die US-Amerikaner. „Wir sind in der Küche gestanden und man hat ein Dröhnen gehört, als die Panzer von Tussenhausen Richtung Türkheim kamen“. Mit seiner Mama und den Geschwistern suchte er Schutz im Gewölbekeller des Hauses. „Ein Kellerfenster zeigte Richtung Norden“, erzählt er, weshalb er mit eigenen Augen beobachten konnte, wie die Amerikaner beispielsweise Handgranaten Richtung Wald und Konzentrationslager abfeuerten. Viktor Frankl schläft zur selben Zeit als einer der wenigen im Lager verbliebenen KZ-Häftlinge in der Revierbaracke und beschreibt in seinem Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ die gleiche Situation aus seiner Perspektive: „Da weckt uns der Lärm von Gewehr- und Kanonenschüssen, der Lichtschein von Signalraketen, das Pfeifen von Kugeln, die auch die Barackenwand durchschlagen;... Bald überblicken wir die Situation: die Front ist da! Die Schießerei läßt nach, hört auf, der Morgen dämmert – und draußen, auf dem Mast neben dem Lagertor, weht eine weiße Fahne.“

    Früher wurde die weiße Flagge im Krieg gehisst, wenn ein Land sich ergeben hatte. Auch Max Keppeler erinnert sich, dass seine Mutter bereits Stäbe und ein weißes Laken vorbereitet hatte. „Aber man durfte die weiße Fahne nicht zu früh heraus tun, falls noch ein fanatischer Deutscher vorbeikam“. Als seine Mutter sah, dass bei Bahnhofsvorstand Pfafflinger die weiße Fahne wehte, habe sie sich auch getraut. Am nächsten Morgen fuhren Amerikaner mit einem Jeep und Maschinengewehren die Straße entlang und schauten, dass sich niemand mehr wehrt. Max Keppeler schaut nachdenklich aus dem Küchenfenster, noch immer wohnt er in seinem Geburtshaus in Türkheim Bahnhof. „So ist es gegangen, es ist vorbei, und die Leut haben nichts gelernt daraus“.

    Fotos:

    Foto_1 Foto: Privat:

    1979 lud Viktor Frankl einige hilfsbereite Türkheimerinnen und Türkheimer in die von Familie Frommelt betriebene Gaststätte „Zur Eisenbahn“ ein. Auf dem Foto ist nur ein Teil der Gäste zu sehen. Von links: Centa Rinninger, Emma Doch, Elly Frankl, Hildegard Zweig, Amalie Rinninger, Daniel Zweig, Pfarrer Johann Keppeler, Viktor Frankl.

    Foto_2 Foto: Privat: 1985 kam Viktor Frankl anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers nach Türkheim und hielt eine bewegende Rede. Auf dem Foto von links: Elly Frankl, Elisabeth Lukas, Viktor Frankl und Pfarrer Herbert Kessel.

    Foto_3 Foto: Kathrin Elsner: Im Leid verbunden waren in der Nacht der Befreiung ohne voneinander zu wissen auch Viktor Frankl und Zeitzeuge Max Keppeler, der voller Angst Panzer und Geschosse von diesem Kellerfenster aus beobachtete.

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