
Schwabe liebt das Bruddeln

TV-Nahost-Experte Ulrich Kienzle philosophiert bei Herwig über seine „ambulante Heimat“
Ulm Optisch hält man ihn nicht unbedingt für einen Schwaben; wenn der frühere TV-Nahostexperte Ulrich Kienzle jedoch zu sprechen beginnt, hört man, was das „le“ am Ende seines Familiennamens bereits andeutet: Der weltgereiste Journalist und Autor ist Schwabe. Und über die Schwaben philosophierte der 76-jährige Kienzle, der seine Sprache ein Berufsleben lang als „ambulante Heimat“ bei sich hatte, in der Ulmer Buchhandlung Herwig am Münsterplatz.
Zwei rätselhafte Völker gebe es auf Erden, sagt Kienzle aus seiner Erfahrung, und beide kennt er gut: die Araber und die Schwaben. Warum ist der Spartrieb bei den Schwaben so ausgeprägt, dass mancher meint, er dominiere über den Sexualtrieb? Und warum sind die Schwaben so ganz anders als die Bayern, viel weniger selbstbewusst, obwohl sie im Land der Tüftler und Erfinder leben? Warum können sie nicht loben und sich allenfalls ein „Ma hod´s essa kenna“ abringen, wenn etwas lecker geschmeckt hat, warum nicht hochstapeln und sich selbst gut finden? Warum liegen ihnen Charme und Erotik so ganz fern? Am Pietismus liegt es, entschlüsselt Kienzle – am Pietismus, der den Lebensgenuss unter anderem am Trinken, an der Fasnet und am Schimpfen verbot – und gar das Denunziantentum über das „Anbringdrittel“ als Lohn für den Vermelder von Verstößen gegen das Genuss-Verbot förderte.
Intelligent analysiert der das Leben genießende Schwabe Kienzle in seiner Leidenschaft für Kutteln die Wesensausrichtung der Schwaben, ihre deftige Sprache, in der ihm selbst schon mancher öffentliche Faux-pas passierte, und das Bruddeln.
Schwäbisches Erfolgsgeheimnis liegt im Selbstzweifel
Der Bohei, der Grasdackel, das Potschamperl und was einem sonst noch in den Wirrungen schwäbischen Wortschatzes begegnen kann, erfahren ihre Erklärung mit einem liebevollen Schalk im Augenwinkel. „Kann ich alles und auch noch Hochdeutsch?“, das ist es, was den Schwaben quält. Das schwäbische Erfolgsgeheimnis liegt im Selbstzweifel. Hübsch: die Analyse des anatolischen Schwaben Cem Özdemir, der verwurzelte Blick seiner in Bad Urach lebenden Eltern auf ihre schwäbische Neu-Heimat. Das Ankommen braucht Zeit, wenn man nicht von Kindesbeinen an Schwäbisch kann – aber das Angekommensein bei den Schwaben bindet Özdemirs Eltern in ihrer Wahlheimat auch im Alter.
Eine bleibende Lehre, gestand Kienzles zerknirschter Verleger am Ende, nehme er selbst mit nach Hause: Ihm passierte ausgerechnet in Ulm das Missgeschick, das Münster samt der Stadt drum herum als „katholische Hochburg“ einzuschätzen, was beim reichlich gekommenen Publikum auf schwäbischen Unmut stieß. Aber auch Ulrich Kienzles Publikum lernte so manches: Schwäbisch breitet sich aus. Schwäbische Restaurants entstehen in Berlin, und ein Partyservice hatte jüngst „Giveawayles“ für den Abschied der Gäste dabei.
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