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Foto: Silvia Marks, dpa (Symbolbild)
Foto: Silvia Marks, dpa (Symbolbild)

Sexuelle Gewalt kann für Schüler traumatisch sein.

Ulm
16.06.2018

Schulalltag in Deutschland: Mathe, Deutsch, Grapschen

Von Alexander Rupflin

Eine Studie zeigt das enorme Ausmaß von sexueller Gewalt unter Schülern. Wer die Opfer sind und was Lehrer tun können, damit sich daran etwas ändert.

Hannah ist 17 Jahre alt, als sie sich umbringt. Die letzten Monate ihres Lebens durchleidet sie ein Martyrium: Zuerst schickt ein Klassenkamerad Fotos von ihr herum, auf der sie einen Jungen küsst, dann behauptet der, sie sei leicht zu haben und eine "Schlampe". Ihr angeblicher Kumpel Alex verfasst eine Liste, auf der sie als das Mädchen mit dem besten Hintern aufgeführt wird. Daraufhin wird sie von den anderen Schülern ständig angetatscht. Am Ende vergewaltigt ein Mitschüler Hannah im Whirlpool.

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Hannah gibt es nicht. Sie ist die erfundene Protagonistin der Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht". Die Leiden, die der Schülerin dagegen widerfahren, sind real. Sie passieren so oder ähnlich tagtäglich an vielen deutschen Schulen. Vermutlich auch in Klassenzimmern der Region.

Jeder zweite Neunt- und Zehntklässler in Deutschland wurde schon einmal Opfer sexueller Gewalt. Das beschreibt eine aktuelle Studie der Universitäten Marburg und Gießen. Deren Autoren definieren sexuelle Gewalt als "Verletzung der körperlichen oder seelischen Integrität, welche mit der Geschlechtlichkeit zusammenhängt". Darunter fallen zum Beispiel:

  • sexuelle Kommentare, Beleidigungen und Witze
  • Exhibitionismus, jemanden zwingen, sich Pornos anzuschauen
  • Belästigung im Internet oder das Veröffentlichen von Nacktfotos
  • Begrabschen, gegen den Willen Küssen, Vergewaltigung.

Wohl kaum ein Schüler wird behaupten können, noch nie eine dieser Handlungen auf dem Pausenhof beobachtet zu haben. Gerade sexistische Beleidigungen sind Alltag in der Schule, geht aus der Studie hervor. Körperliche Übergriffe passieren dagegen eher nach dem Unterricht. Die Täter sind zu 90 Prozent Jungs, die Opfer zu 90 Prozent Mädchen. Aber gerade bei Beleidigungen und sexistischen Witzen, werden auch immer wieder Schülerinnen zu Täterinnen.

Sexuelle Gewalt unter Schülern: Jeder hat sie nackt gesehen

Marc Allroggen, Psychiater am Universitätsklinikum Ulm, fasst die Situation lakonisch so zusammen: "Sexuelle Gewalt ist Teil des Alltags der Schüler". Allroggen forscht seit Jahren zu dem Thema. Zahlreiche Geschichten kann er erzählen, in denen Schüler auch in Schulen aus dem Landkreis Opfer sexueller Gewalt wurden.

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Ein Beispiel: Ein 16-jähriges Mädchen hat einen neuen Freund. Er überredet die Schülerin, ihm Nacktfotos von sich zu schicken. Sie sendet ihm ein Selfie, auf dem sie Oben-ohne zu sehen ist. Kurz darauf zeigt der Junge das Bild seinen Freunden, schickt es herum. "So ziemlich jeder in der Schule hat sie nackt gesehen", erzählt Allroggen. Für die Schülerin ein Albtraum. Wochenlang traut sie sich nicht mehr in die Schule, benötigt psychologische Unterstützung. Warum der Freund ihr das angetan hat?

Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Allroggen erklärt: "Jugendliche handeln oft impulsiv". Manchmal wollen die Täter einfach toll dastehen, zeigen, wie cool sie sind. Sie denken nicht an die Konsequenzen. Anderen fehlt es an sozialen Kompetenzen – sie begreifen nicht, wie sehr sie ihr Opfer verletzen, oder es ist ihnen egal. Manchmal handeln die Täter auch nur, um selbst nicht mehr als Opfer zu gelten. Wenn die Täter erst einmal verstanden haben, wie sehr ihr Gegenüber leidet, befällt sie meist große Scham. Bis es allerdings so weit ist, leugnen viele die Tat.

Bei Opfern kann sexuelle Gewalt zum traumatischen Erlebnis führen

Allroggen erinnert sich an einen jungen Patienten, der nicht in der Lage war, mit fremden Mädchen in Kontakt zu treten. Darum überredete der Junge seine deutlich jüngere Stiefschwester dazu, ihm zwischen die Beine zu fassen. Selbst lange Zeit nach der Tat verstand der Schüler nicht, was er seiner Schwester damit angetan hat. Fälle wie diese zeigen: Täter sind häufig Opfer ihres eigenen Unvermögens. Aus diesem Grund brauchen nicht nur die Leidtragenden Hilfe, sondern auch der übergriffige Jugendliche – allein schon, damit er nicht zum Wiederholungstäter wird. Allroggen betont, dass "nicht jeder, der sexuell gewalttätig geworden ist, ein Sexualstraftäter ist." Die Täter müssen lernen, für ihr Handeln Verantwortung zu übernehmen.

Für die Opfer hingegen kann die erlebte sexuelle Gewalt zum traumatischen Erlebnis werden: "Stimmungsschwankungen und Reizbarkeit, Minderung des Selbstwertgefühls, depressive Verstimmungen oder Ängste", seien typische Folgen, beschreibt eine Studie von Wissenschaftlern des Universitätsklinikums Ulm. Das kann sich bis zu einer posttraumatischen Belastungsstörung ausweiten. Ein Problem: Häufig begrenzt sich die sexuelle Gewalt heute nicht mehr auf das Klassenzimmer.

Mehr Prävention und Gewaltfreiheit

Wer zehn Minuten auf Instagram rumklickt, findet relativ sicher unter dem Foto junger Frauen sexistische Kommentare. Im eigenen Jugendzimmer müssen die Schüler sich durch Mobbing in den sozialen Netzwerken weiter demütigen lassen. Und jeder kann mitlesen. – Was Schulen tun können, damit es nicht so weit kommt?

Allroggen appelliert, die Schulen müssten sich als "gewaltfreie Räume" etablieren. Man müsse mehr und vor allem spezifischer handeln. "Wir müssen weg von: hier ein Projekt, da ein Projekt. Sondern müssen Prävention und Gewaltfreiheit stärker verankern." Die Lehrer müssten besser geschult werden. Und die Schüler müssten wissen, wen sie als Ansprechpartner zur Verfügung haben. Projektwochen hätten wenig Sinn. Aber Allroggen ist zuversichtlich: "Wir sind bei dem Thema sensibler geworden."

Das betonen auch die Schulen in der Region. Man sei sich des Themas bewusst, sagt zum Beispiel Mark Lörz, Schulleiter des Bertha-von-Suttner-Gymnasiums in Neu-Ulm. "Vorfälle gibt es bei uns aber zum Glück keine", sagt er.

Lehrer sehen soziale Netzwerke als großes Problem

Lörz gibt dennoch zu, dass man als Lehrer bei den üblichen Beleidigungen, die sich Schüler so an den Kopf werfen, durchaus abstumpfe. Er ist aber überzeugt, dass "Schüler diese Begriffe nicht so dramatisch wahrnehmen, wie Erwachsene." Man müsse hier pädagogisches Augenmaß wahren. In welchen Zusammenhang kam es zu der Beleidigung? Wie ernst wurde sie gemeint und aufgefasst? Als größeres Problem als die Schulhofbeleidigungen sieht Lörz die sozialen Netzwerke. Darum dürfen Schüler der Unterstufe des Bertha-von-Suttner-Gymnasiums keine Klassengruppe auf Whatsapp einrichten.

Auch die Politik befasst sich inzwischen mit dem Thema sexuelle Gewalt: Seit diesem Jahr sind bayerische Schulen gesetzlich verpflichtet, einen Beauftragten für Familie und sexuelle Erziehung zu benennen, dessen Aufgabe es ist, sowohl Schüler als auch Lehrer über das Thema aufzuklären. Inwieweit diese Maßnahmen greifen werden, wird man abwarten müssen.

Hast du an deiner Schule schon einmal sexuelle Gewalt erlebt oder beobachtet und findest, darüber sollte berichtet werden? Dann schreib uns (klartext@nuz.de) oder ruf an unter 0731/707116.

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