Sonnenaufgang im Münster
Ab Pfingstsonntag ist in der Turmhalle „Solar Equation“ von Rafael Lozano-Hemmer zu sehen. Der Künstler betrachtet die Installation als Experiment – zu dem die Betrachter gehören.
Von Marcus Golling
Und dann leuchtet sie. Mal glutgelb, mal blutrot färbt sich die Oberfläche der Kugel, über die feine Pixelstrukturen zu gleiten scheinen. Dann ist der Zauber vorbei – und aus der künstlichen Sonne wird wieder ein weißer Ballon. Der Testlauf ist vorbei, jetzt geht es wieder an die Computer. Seit ein paar Tagen ist der mexikanisch-kanadische Medienkünstler Rafael Lozano-Hemmer in Ulm, um mit seinem Team seine Installation „Solar Equation“ („Sonnengleichung“) fertigzustellen. Die animierte Kugel in der Turmhalle, die am Pfingstsonntag um 11 Uhr erstmals für die Öffentlichkeit leuchtet, ist der wohl spektakulärste künstlerische Beitrag zum 125-Jährigen des Hauptturms. Und trotzdem eine Arbeit, die so gar nicht effekthascherisch ist. Doch vor dem Sonnenaufgang droht zunächst eine weitere Nachtschicht. Denn Lozano-Hemmer ist nicht zufrieden. „Es ist immer noch zu hell“, beklagt er sich auf Englisch. Ein schwarzer Vorhang, der das Licht der echten Sonne draußen halten soll, ist zu kurz. Der Künstler greift zum Telefon. Seine Mitarbeiter werkeln unterdessen an ihren Notebooks. Die Animation muss noch an die Raumverhältnisse angepasst werden, die acht Beamer kalibriert, sodass wirklich nur die künstliche Sonne leuchtet. „Wir konnten das in Montreal nicht ausprobieren“, sagt er und grinst. „Wir hatten in unserem Atelier keine Kathedrale zur Verfügung.“ Die Exaktheit ist ein elementarer Bestandteil der Arbeit des 1967 in Mexico City geborenen Lozano-Hemmer. Der Künstler, der einen Abschluss in Physikalische Chemie besitzt, will mit seinen Werken naturwissenschaftliche Erkenntnisse sichtbar machen. So auch mit „Solar Equation“, einem Modell der Sonne im Maßstab eins zu 200 Millionen. Was da auf der Oberfläche zu sehen ist, beruht auf komplexen Berechnungen. Elf „Jahreszeiten“ können so dargestellt werden, ruhige ebenso wie solche mit heftigen Eruptionen auf der Oberfläche. Die Installation in Ulm ist für Lozano-Hemmer etwas Besonderes: „Mir gefällt die Idee, dass die Menschen mit einem Bau wie dem Münsterturm dem Himmel nahekommen wollten.“ Durch die Hängung im Kirchenraum können die Projektionen nicht nur präziser werden als bei bisherigen „Solar Equation“-Präsentationen unter freiem Himmel, auch die Wahrnehmung ändere sich. Zur wissenschaftlichen Dimension komme eine symbolische, fast romantische hinzu, die durchaus auch den eher unreligiösen Lozano-Hemmer erreicht. Die Gegenwart der Sonne erzeuge ein Gefühl von Demut und Bedeutungslosigkeit – und genau daraus entstehe Bedeutung. Er greift zu einem Vergleich: „Würde man die Erde im selben Maßstab darstellen, wäre sie so groß wie eine Murmel“, sagt er. „Und sie müsste sich, damit auch die Entfernung zur Sonne stimmt, im Hauptbahnhof befinden.“ Es war aber nicht die Idee einer Arbeit im Kirchenraum, die Lozano-Hemmer für das Münster begeisterte, sondern die Tatsache, dass diese Kirche in der Geburtsstadt von Albert Einstein stehe: der Spagat zwischen Religion und Wissenschaft also. Der Künstler versteht „Solar Equation“ als Experiment – und in diesem spielen die Betrachter eine entscheidende Rolle. Kleine Kameras an den Seiten erfassen die Menschen in der Turmhalle. Je größer deren Aktivität, desto größer auch die der Sonnenoberfläche und desto lauter auch das sanfte Rauschen und Knacken, das die Installation akustisch begleitet. Eine Deutung will Lozano-Hemmer den Betrachtern nicht liefern. Vielmehr soll „Solar Equation“ ein Anstoß sein. „Die Wissenschaft erlaubt es den Menschen, zu träumen und sich über die Welt zu wundern“, sagt der Künstler. „Diese Begeisterung für das Unbekannte ist für mich das Religiöse.“
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