
Wo blanker Hass regiert

„Volksvernichtung“ von Werner Schwab zeichnet auf dem Podium ein abgründiges Menschenbild
Es muss Hybris sein, wenn sich der Mensch als Krone der Schöpfung sieht: Ein abgründiges Menschenbild zeichnete der österreichische Dramatiker Werner Schwab in seinem zwei Jahre vor seinem Tod aufgeführten Radikaldrama „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“, das Caroline Stolz im Podium des Theaters Ulm inszeniert. Das Stück ist Teil der „Fäkaliendramen“ aus dem Jahr 1991, dem Jahr des kometenhaften Aufstiegs Schwabs und seiner großen Auszeichnungen. Im wirklichen Leben gelang Werner Schwab, was der Hauptfigur des Stückes, Frau Grollfeuer, nicht gelingen mag: Schwab trank sich zu Tode. Er wurde am 1. Januar 1994 35-jährig mit einem Blutalkoholwert von 4,1 Promille in Graz tot aufgefunden.
Frau Grollfeuer ist eine todunglückliche, vom Leben frustrierte Seniorin, die daran zerbricht, dass es keinen Mann gibt, der sie wenigstens in sein Bett fantasiert. Nicht einmal der Alkohol konnte diesem Witwenleben Sinn geben, und er konnte es auch nicht beenden, denn Frau Grollfeuers Leber hält den Schnapsflaschen-Batterien in ihrer Wohnung im Obergeschoss ihres Hauses problemlos stand. Jörg-Heinrich Benthien brilliert in der Rolle der verbitterten, rachsüchtigen Herrenmenschen-Seniorin mit großartiger Körpersprache. Seine rauchwolkenumwölkten Auftritte zaubern Bilder vom Drachen Frau Mahlzahn aus Kummerland in Michael Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ in den Zuschauer-Kopf.
Jörg-Heinrich Benthien als weibliche Hauptfigur: Den Kniff des Rollentausches der Geschlechter hält Caroline Stolz durch die komplette Besetzung durch. Alle Frauenrollen werden von Männern, alle Männerrollen von Frauen gespielt. Wahrscheinlich ist das die einzige Möglichkeit, die dauernden gegenseitigen sexuellen Übergriffe von Personen in den beiden Mietwohnungen unter Frau Grollfeuers Beletage mit Distanz zu jeder Erotik durchzuhalten. Die beiden Töchter der Familie Kovacic, Desirée und Bianca, werden von Raphael Westermeier und Florian Stern in trägerlosen Pomanschetten-Kleidchen gespielt. Diese optisch bizarre Konstellation macht das elterliche Inzestverhalten ohne Emotionen beim Zuschauer aushaltbar. Renate Steinle gibt den vermeintlichen Aufsteiger Kovacic, der jedem weiblichen Wesen (außer seiner Frau: Gunther Nickles) unter den Rock greift, engagiert und mit einem Touch rechter Gesinnung.
Im Untergeschoss wohnen die unsichtbaren Getretenen, die selbst treten: Die verhärmte Frau Wurm (Fabian Gröver) und ihr verkrüppelter, verachteter Sohn Hermann (Aglaja Stadelmann), der von einer Karriere als expressionistischer Maler träumt. Der blanke Hass regiert in dieser vor kitschigen religiösen Devotionalen strotzenden Wohnung, in der das Kreuz Christi an der Wand immer wieder kippt und Mutter und Sohn einander die Hölle bereiten. „In meinem Bauch hat dein Vater mein Grab geschaufelt“, urteilt Frau Wurm über Hermann. Werner Schwabs Sprache: berserkerhafte Fäkalsprachkaskaden, und doch von großer Kraft und Präzision. Caroline Stolz’ Inszenierung lässt sämtliche Körperflüssigkeiten auf die Bühne, bis Frau Grollfeuer dem Sodom und Gomorrha im Haus ein Ende bereitet.
Weitere Aufführungen am 14., 20., 29. Juni, 4., 10., 12. und 16. Juli.
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