Wer die Raketen abschoss, die sein Elternhaus im Frühsommer vor einem Jahr zerstörten, das weiß der junge Syrer nicht. Ihm ist es letztlich auch egal, ob es Bomben des Assad-Regims, von Rebellen oder des IS waren. Von einer Minute auf die andere war sein Heim nur noch Staub und Stein. Und mit ihm das Restaurant seiner Eltern – die Lebensgrundlage des damals 16-Jährigen sowie seiner vier Geschwister. Der Tod schien nah. Wenn nicht mit der nächsten Bombe, dann im Militärdienst. Die Einberufung war bereits erfolgt. So nahm ihn sein Vater ins Gebet und schickte seinen Sohn zusammen mit dem Filius seines Bruders nach Europa. 15 Tage dauerte die Reise von einem Vorort von Damaskus über den Libanon, die Türkei, Griechenland und die Balkanroute bis nach Deutschland.
Die Flucht gelang: Die beiden damals 16-Jährigen Cousins erhielten im Sommer 2015 Asyl in Deutschland. Beide stellten mit Hilfe ihres Ulmer Paten, Peter Oesterle, sowie des Flüchtlingsrats einen Antrag auf Familiennachzug gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention. Das Ergebnis lässt die Familie verzweifeln: Während dem einen Teil des Fluchtduos der Familiennachzug gewährt wurde, soll sich der andere nun mit einer Verweigerung abfinden. Und das obwohl er seinen Antrag sogar einen Tag vor seinem Cousin eingeeicht habe.
„Zynisch und unmenschlich“ nennt der vom Flüchtlingsrat beauftragte Rechtsanwalt Christoph Käss die Entscheidung des Innenministeriums. Denn seine Eltern erhielten zwar ein Visum, doch nicht ihre Kinder. Die Eltern werden von den Behörden also gezwungen, sich entweder für das Zusammenleben mit nur einem Teil ihrer Kinder oder aber gegen ihr Zusammenleben als Paar zu entscheiden. Eine Trennung der Familien durch Flucht werde so nicht nur in Kauf genommen, sondern geradezu bewusst forciert – unter Umständen auf Jahre hinaus. „Gleiche Fälle müssen zumindest gleich behandelt werden“, sagt Wolfgang Erler, Vorstand des Flüchtlingsrats. Umfangreiche Recherchen hätten ergeben, dass offenbar eine Mitte Juli erlassene Weisung des Innenministeriums die Ausländerbehörden zur einer Verschärfung der Familiennachzugsregelung zwingt. Aus unerfindlichen Gründen sei die Akte des einen Cousin-Duos vor dem Erlass bearbeitet worden, obwohl sie früher eingereicht worden sei. In einer „Remonstration“ legte Anwalt Höss den Behörden dar, warum die Ablehnung der Visa für die Geschwister nicht zu dulden sei. Es bleibt auch der Klageweg, doch die juristischen Mühlen mahlen langsam. Und das Visum für die Eltern des jungen Syres, der zudem bald volljährig wird, läuft am 26. Dezember aus. Anwalt Höss erwartet nicht, dass die Behörden die Weisung zurück nehmen. Doch eine „Einzelfallentscheidung“ sei immer möglich.
Peter Oesterle, der Pate des Syrers, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, hält es für äußerst bedenklich, dass gerade Heranwachsenden die elterliche Führung vorenthalten wird. Derzeit lebt der nun 17-Jährige in einer WG der Stiftung „Guter Hirten“. Sein Cousin mit seiner Familie hingegen in einer Wohnung in Langenau.
Ulm ist kein Einzelfall, aber es gibt auch keine Massen an deratigen Härtefällen, wie Oesterle betont. Die Organisation Pro Asyl beklagt einen „hartherzigen Kurswechsel“ beim Thema Familiennachzug: Eltern dürfen in mehreren Fällen kommen, die minderjährigen Geschwister aber nicht. Über viele Jahre hinweg erfolgte die Einreise der Geschwister im Rahmen einer Auslegung des Begriffes der außergewöhnlichen Härte. Doch was bisher überwiegend ganz selbstverständlich als Härte galt – nämlich die Trennung von Eltern und Kindern – werde jetzt per Weisung gnadenlos weginterpretiert. „Paragrafenfundamentalismus“ nennt das Wolfgang Erler.