
Obdachlose, Bettler, Menschen im Abseits: Erinnerung an Opfer der NS-Zeit

Plus Obdachlose, Bettler, Menschen im Abseits: Der Arbeitskreis 27. Januar Ulm/Neu-Ulm gedenkt Opfern, die der Nationalsozialismus als „Asoziale“ verfolgte.
In anderer Form als sonst, aber mit einem bislang wenig erforschten Thema, erinnert der Arbeitskreis 27. Januar Ulm/Neu-Ulm an den Sinn des Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus: In einem Livestream ab 20 Uhr stehen in diesem Jahr die in der NS-Zeit als „asozial“ Verfolgten im Mittelpunkt.
Erst 2019 wurden sie als NS-Opfer anerkannt, was unter anderem darin begründet ist, dass die mit einem schwarzen Winkel als asoziale gekennzeichneten Häftlinge und die mit einem grünen Winkel gebrandmarkten „Berufsverbrecher“ auf der untersten Stufe der Hierarchie der KZ-Häftlinge standen. Auch von politischen Gefangenen erfuhren sie keine Solidarität und sie wurden in den Jahrzehnten nach Kriegsende nicht als Opfer, sondern als „selbst schuld“ an ihrem Schicksal wahrgenommen.
Sozial Schwache litten stark unter der Verfolgung durch die Nazis
Deshalb hängt der Stand der Forschung zu jenen Menschen, die mit den schwarzen und grünen Winkeln als arbeitsscheue, die Volksgemeinschaft schädigende Subjekte stigmatisiert wurden, bis heute weit hinter dem Forschungsstand zu anderen NS-Opfern zurück. Oliver Gaida von der HU Berlin wird an dem Abend unter Berücksichtigung der lokalen Situation in Ulm und Neu-Ulm auf die Geschichte der Verfolgung dieser Menschen eingehen. In der von Petra Bergmann moderierten Veranstaltung werden Gaida, Ulms Sozialbürgermeisterin Iris Mann und Karin Ambacher, die Leiterin des Ulmer DRK-Obdachlosenheimes, im Anschluss über die heutige Situation Obdachloser diskutieren.
Die Folgen des Ersten Weltkrieges und die Weltwirtschaftskrise hatten eine Massenarbeitslosigkeit geschaffen, deren soziale Not viele den Weg zur Wohlfahrt (zur Sozialhilfe) suchen ließ. Der Paradigmenwechsel des Jahres 1933 gegenüber sozial Schwachen wird am Beispiel dieser Wohlfahrtsämter – in Ulm wie überall – deutlich: Wo kommunale Fürsorge bis dahin sozial Schwache unterstützt hatte, schrieben im Nationalsozialismus Fürsorgerinnen Gutachten über Langzeitarbeitslose, über Wohnsitzlose und Suchtkranke, deren Namen an die Rathäuser gemeldet wurden und die damit in sogenannte „Arbeitshäuser“ eingeliefert wurden, teilweise über Oberbürgermeister Friedrich Foerster selbst, teilweise über seinen Sozialbürgermeister Georg Schwäble.
Der Arbeitskreis 27. Januar Ulm/Neu-Ulm rückt die Opfer ins Licht
Für Ulm war dazu das ehemalige Schloss Buttenhausen als „Beschäftigungs- und Bewahranstalt“ zur „Umerziehung Asozialer und Arbeitsscheuer“ eingerichtet worden. Scheiterte die mit physischer und psychischer Gewalt einhergehende Umerziehung zum nützlichen Mitglied der Volksgemeinschaft, wurden diese Menschen in Konzentrationslagern inhaftiert. Diese Arbeitshäuser waren Spezialgefängnisse zur Unterbringung von Landstreichern, Bettlern und anderen sozial abweichenden Bevölkerungsteilen, sagt der Historiker Ulrich Seemüller vom Arbeitskreis 27. Januar.
Bekannt ist das Schicksal des kommunistisch orientierten Gregor Gog, der unter dem Einfluss des Dichters Gusto Gräser vom Monte Verità zum Vagabunden wurde und der die „Bruderschaft der Vagabunden“ ins Leben rief. Gog war unter anderem im Ulmer Konzentrationslager Oberer Kuhberg inhaftiert. Eugen Grüner wurde vom Ulmer Polizeidirektor Wilhelm Dreher selbst ins KZ Oberer Kuhberg eingeliefert; der Ulmer Albert Bernlöhr wurde als „Arbeitsscheuer“ ins KZ Buchenwald verschleppt, nachdem seine Umerziehung in Buttenhausen gescheitert war. Wie schnell jemand zum „Berufsverbrecher“ werden konnte, schildert Josef Naßl vom Ulmer Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg: Da es verboten war zu betteln, aber viele dazu gezwungen waren, weil es an Nahrungsmitteln und Unterkunft fehlte, führten Bettelrazzien schnell zu einer Unmenge von Vorstrafen – über die der Bettler dann zum „Berufsverbrecher“ abgestempelt wurde.
Das Dokuzentrum Oberer Kuhberg in Ulm gedenkt der Opfer
Freilich gab es in den Konzentrationslagern auch tatsächlich Schwerverbrecher, deren Ruf dafür sorgte, dass die Fälle von KZ-Häftlingen die mit dem „grünen Winkel“ für Berufsverbrecher bis heute nicht schlechter aufgearbeitet sind als die Schicksale anderer Verfolgter des Nationalsozialismus. Ulrich Seemüller sieht eine persönliche Lebenserfahrung Adolf Hitlers – die Jahre von 1910 bis 1913, die Adolf Hitler im Obdachlosenheim lebte, nachdem er das Erbe seiner Mutter schnell verbraucht hatte – als Ursache der Verfolgung sozial Schwacher im Nationalsozialismus. Hitler habe sie nicht sehen wollen, weil er sich dadurch an diese eigene bittere Lebensphase erinnert fühlte.
Im zweiten Teil des Abends wird es in einer Diskussion um die heutige Wahrnehmung von wohnsitzlosen Menschen gehen. Sozialpädagogin Petra Bergmann sind Fragen wichtig wie jene, wie viel Hilfe der Staat einem Obdachlosen zumuten kann und darf, und welche Möglichkeiten der Übernachtung Wohnsitzlose mit Hund oder obdachlose Paare haben.
Die Teilnahme an der Veranstaltung am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ist kostenfrei, die Veranstaltung wird gestreamt über den Youtube-Kanal des DZOK. Mehr dazu im Internet unter www.dzok-ulm.de.
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