
Als die Hölle über Ulm hereinbrach

Heute vor 70 Jahren versank die Innenstadt nach Bombenangriffen in Schutt und Asche. Ein Augenzeuge erinnert sich an Bilder, die ihn nie mehr losließen
Als der Engländer Patrick Leigh Fermor im Alter von 19 Jahren im Winter 1933 eine abenteuerliche Wanderung von Rotterdam nach Konstantinopel machte, kam er im Dezember auch in das tief verschneite Ulm: „Sobald am nächsten Morgen die Tore des Münsters geöffnet wurden, stieg ich die Turmtreppen hinauf und stand mit pochendem Herzen oberhalb des Gestühls (...). In einer Straße unter mir sah ich eine blutrote Hakenkreuzfahne flattern, als wolle sie mir sagen, dass die Zeit der Schlachten noch lange nicht vorüber sei.“ Tatsächlich waren die Gedanken des jungen Mannes von geradezu kassandrahaftem Weitblick. Sechs Jahre später überfiel Hitlers Deutschland in brutalsten Angriffskriegen halb Europa und brachte die deutsche Luftwaffe unsagbares Leid über Millionen von Menschen. 1942/43 wendete sich das Blatt des Krieges und gewannen die Alliierten zusehends die Oberhand, begannen massive Luftangriffe auf das Reich. Von diesen blieb das schwäbische Ulm indessen im Großen lange weitgehend verschont.
Am 17. Dezember des Jahres 1944 schließlich, man schrieb den dritten Advent, lag dichter Nebel wie eine vermeintlich schützende Decke über der Stadt, weshalb auch kaum jemand an einen Luftangriff glaubte. Um 17.30 Uhr meldeten die Volksempfänger „Feindlicher Kampfverband auf Süddeutschland“, was aber zunächst nichts bedeuten musste, denn seit Kriegsbeginn hatte es bereits mehr als 130 Mal Luftalarm gegeben. Manche Familien waren gerade dabei, Adventslieder zu singen, als um 18.59 Uhr die Sirenen Voralarm und sieben Minuten später Fliegeralarm heulten. Es sollten nun noch genau 17 Minuten vergehen, bis über Ulm die Hölle hereinbrach.
Die ganze Stadt war verdunkelt, nicht das kleinste Fenster durfte bei schwerer Strafe beleuchtet sein. Die Menschen rannten zum nächstgelegenen Keller oder Bunker durch die Straßen, die in ihrer Dunkelheit ein gespenstisches Bild boten. Schließlich war ein dumpfes Brummen und Dröhnen von 317 schweren, viermotorigen Flugzeugen zu hören, 13 Jagdflugzeuge bildeten den Geleitschutz. Das Dröhnen schwoll schließlich zum drohenden Grollen an. Die Einflugschneise der Bomber bildete in mehreren Wellen das zwischen dem Eselsberg und Hochsträß gelegene Blautal. Kurz darauf gingen die ersten „Christbäume“ auf die Stadt nieder, um in der dichten Nebelsuppe den britischen Piloten das Zielgebiet deutlich zu bezeichnen.
Langsam und gemächlich senkten sich die grellen Leuchtfallschirme auf die Stadt herab und erhellten die nebelige Dunkelheit zur Taghelle. Bereits über der Weststadt begannen die Piloten ihre Bombenschächte zu öffnen, während gleichzeitig die wenigen Flakstellungen, von denen sich eine auf der Wilhelmshöhe befand, ihre Granaten in den Himmel donnerten. Aus mehr als 300 Maschinen fielen Zehntausende Bomben in die Tiefe, durchschlugen die Dächer und ertönten in rascher Folge gewaltige, endlos erscheinende Detonationen. In den 27 dunkelsten Minuten seiner Geschichte fielen auf Ulm 96646 Bomben – 93750 Stabbrandbomben, 1220 phosphorhaltige Flüssigkeitsbomben und 1545 zum Teil 20 Zentner schwere Sprengbomben.
Zehn Kilogramm schwere Asphaltbrocken wurden auf den 110 Meter hohen Viereckkranz des Münsters geworfen. Auf dem heutigen Willy-Brandt Platz wurden Straßenbahnwagen durch den Luftdruck herum geschleudert. Ungezählte Feuerstürme entstanden und Häuser brachen in sich zusammen, während zahllose Menschen mit Todesangst in den Kellern saßen und beteten. Als die Bomber nach einer knappen halben Stunde nach Südwesten abdrehten, gaben die Sirenen keine Entwarnung, da sie sämtlich von den Dächern geflogen waren und versank eine in mehr als acht Jahrhunderten gewachsene, mittelalterliche Stadt zu 81 Prozent in einem Flammenmeer.
„Die Nacht war feuerhell“, so ein Augenzeuge, „ein nie gekannter Sturm tobte“.
Im weiten Umkreis leuchtete der nächtliche Himmel gelbrot wie eine Fackel am Horizont, wobei der Feuerschein noch in einer Entfernung von 100 Kilometern zu sehen war. An vielen Stellen war die Hitze so groß, dass sich auf dem Asphalt Blasen bildeten. An den Strebsäulen des Münsters, das wie durch ein Wunder bis auf ein paar wenige zerstörte Fenster stehen geblieben war, lief brennender Phosphor herab, durch den selbst, wie Augenzeugen berichteten, das Wasser der Donau in bizarr-grünen Flammen brannte.
Am nächsten Tag irrten Tausende verzweifelte und weinende Menschen durch eine rauchende Trümmerwüste und suchten nach ihren Angehörigen und ihrer Habe. 707 Menschen lagen in den Trümmerbergen begraben, wovon viele in den Kellern durch Kohlenmonoxid erstickt waren.
25000 Ulmer hatten mit einem Schlag ihr Heim verloren und standen inmitten eines eiskalten Dezembers vor dem Nichts.
Der damals achteinhalbjährige Augenzeuge Eberhard Dreher erzählte im Gespräch, wie er am Tag nach dem Angriff mit seinem sechsjährigen Bruder über gewaltige Schuttberge durch die weitgehend zerstörte Innenstadt im Hafenbad ging, wo vom Seelengraben bis zur Ecke Pfluggasse kein einziges Haus stehengeblieben war. „Es gab im Hafenbad ein Schreibwarengeschäft, den Tinten-Rapp, in dem wir als Kinder immer unsere Schulsachen gekauft haben“, schildert er. „Fräulein Rapp, eine hagere ältere Dame, die das Geschäft betrieb, hatte gräuliches, zu einem Dutt gebundenes Haar und trug immer so altbackene hohe Schnürstiefeletten. Am 18. Dezember gab es den Tinten-Rapp nicht mehr. Neben einem Notausstieg am Keller ragte aus einem Schuttberg mitsamt dem unteren Bein einer der Schnürstiefel von Fräulein Rapp. Ich habe das in meinem Leben nie vergessen.“
Die Diskussion ist geschlossen.