Die letzte Zeitzeugin, die sich an das jüdische Leben in Ulm vor dem Holocaust erinnern konnte, ist nun im Alter von 103 Jahren in Louisville, Kentucky, gestorben. Das teilte ihre Familie nun mit. Die KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg Ulm hat einen Nachruf veröffentlicht.
Leiterin Nicola Wenge schreibt: „Wir sind traurig, mit Ann Dorzback eine herausragend kluge und menschliche Zeitzeugin zu verlieren, die Jüngeren den Zeithorizont jüdischen Lebens vor dem Holocaust noch bis ins hohe Alter auf einzigartige Weise vermitteln konnte.“
Ann Dorzback hielt die Erinnerung wach
Bis zuletzt engagierte Ann Dorzback sich als Zeitzeugin gegen das Vergessen. 2022 drehte sie mit Regisseurin Sibylle Tiedemann einen Film mit dem Titel „Man kann immer an einem Fluss sitzen – Ann Dorzback: Ein jüdisches Leben“. Kurz vor ihrem Tod vollendete sie ein Manuskript mit ihren Erinnerungen, an dem sie Jahrzehnte gearbeitet hatte und das in Kürze von ihren Kindern veröffentlicht wird. Vergangenes Jahr schenkte Ann Dorzback der Stadt Ulm noch eine besondere Erinnerung: Sie lies eine Innenansicht der alten, 1939 zerstörten Ulmer Synagoge malen. Denn Fotografien gab es von diesem Gebäude nur von außen. Das Bild hängt im Museum „Die Einsteins“.
Ann Dorzback, am 21. Juni 1921 als Anneliese Wallersteiner geboren, wuchs mit ihrer Schwester Charlotte in einer wohlhabenden jüdisch-liberalen Familie auf. Die Familie beging jüdische ebenso wie christliche Feiertage. Jüdische Prinzipien wie Tikun Olam (die Welt verbessern) und Tzedaka (Gerechtigkeit/Philanthropie) waren in ihrem Elternhaus wichtig. Vielfalt begrüßen und Vorurteile bekämpfen. Diesen Grundsätzen und der Haltung, Fremde willkommen zu heißen, verpflichtete sie sich ihr Leben lang. An der Mädchen-Oberrealschule besuchte Ann Dorzback dieselbe Klasse wie Sophie Scholl.
Ann Dorzbacks Familie floh nach dem Novemberpogrom
Die Machtübernahme der Nazi setzte der behüteten Kindheit ein jähes Ende. Nach dem Novemberpogrom entschieden sich die Wallersteiners, die ihre Firma im Sommer 1938 weit unter Wert hatten verkaufen müssen, zur Flucht. Mittellos floh die Familie erst nach London und schließlich in die USA. 1939 kamen die Wallersteiners in New York an. Anneliese heiratete Richard Dorzbacher.
1971 kehrte Ann Dorzback erstmalig nach Ulm zurück und war später regelmäßig zu Gast, etwa zur Einweihung der neuen Synagoge 2012. Der Aspekt der Aussöhnung war ihr stets ein Anliegen. 2021 wurde ihr die Bürgermedaille der Stadt Ulm und ebenfalls als Auszeichnung der Schlüssel der Stadt Louisville verliehen.
Ann Dorzback hinterlässt ihre vier Kinder Irene, Robert, Margaret und Elisabeth mit Enkeln und Urenkeln. Die Familie lädt die Ulmer Freunde und Bekannte von Ann Dorzback ein, via Zoom an der Trauerfeier teilzunehmen. Sie findet am 22. April 2025 um 15 Uhr statt. (AZ)
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