Frau Nrecaj, aufgewachsen sind Sie in Leibi. Das ist ja nicht gerade als Filmstadt oder Filmdorf bekannt. Woher kam der Wunsch, Regisseurin zu werden?
KRISTINE NRECAJ: Als Kind habe ich immer viele Filme mit meinem Vater gesehen. Er war ein großer Hitchcock-Fan und liebte Schwarz-Weiß-Filme sowie die alten Hollywoodstars wie Cary Grant. Das fand ich schon als Kind sehr spannend. Ich habe dann früh Theater gespielt. Aber ich wollte nicht nur als Schauspielerin das Werkzeug eines Regisseurs oder einer Regisseurin sein, sondern meine eigenen Geschichten erzählen. Deshalb habe ich in Berlin Theater- und Filmwissenschaften studiert und mich danach als Regisseurin selbstständig gemacht.
Heute drehen Sie auch viele Dokumentarfilme. Für Ihren aktuellen Film „wo/men“ haben Sie und ihre Co-Regisseurin Birthe Templin in Albanien mit sechs Burrneshas gesprochen. Was ist denn eine Burrneshë?
NRECAJ: „Burr“ heißt auf Albanisch „Mann“ und „neshë“ ist die weibliche Endung. Vielleicht könnte man das mit dem Wort „Männin“ übersetzen. Eine Burrneshë ist eine Frau, die ab einem bestimmten Zeitpunkt im Leben als Mann lebt beziehungsweise die soziale Rolle eines Mannes übernimmt. Das ist eine sehr alte Tradition in Albanien, die auch im Gewohnheitsrecht, dem Kanun, niedergeschrieben ist. Wenn es keine männlichen Nachkommen in der Familie gab, musste eines der Mädchen als Mann leben, bei der Familie bleiben, die Eltern versorgen, ewige Jungfräulichkeit schwören und durfte auch nicht heiraten.

„Wo/men“ ist schon Ihr zweiter Film zu dem Thema. Was fasziniert Sie denn persönlich so an diesen Schwurjungfrauen, wie Burrneshas auch genannt werden?
NRECAJ: Ich hatte eine Großtante, die eine Burrneshë war. Bei ihr war es so, dass sie nicht heiraten wollte. Als Burrneshë hatte sie etwas, das andere Frauen nicht hatten: eine Stimme in der Öffentlichkeit. Sie durfte sich frei bewegen. Das Thema ist also auch deshalb so faszinierend für mich, weil es Teil meiner eigenen Familiengeschichte ist. Mich interessiert aber auch, was patriarchale Strukturen mit Menschen machen – welche Konsequenzen sie vor allem für uns Frauen mit sich bringen. Dass wir Teile von uns, unsere Weiblichkeit, negieren, um gehört zu werden. Das passiert nicht nur in Albanien, sondern auch in der westlichen Welt, wo wir Frauen uns manchmal mehr männlich geben müssen, um respektiert zu werden oder um uns zu schützen.
Sie sagten gerade, Ihre Tante wollte nicht heiraten. Heißt das, eine Burrneshë zu sein, ist nicht immer ein von äußeren oder familiären Umständen auferlegtes Schicksal. Es kann auch ein selbstgewählter Lebensweg sein?
NRECAJ: Genau. Das sieht man auch in unserem Film. Deshalb haben wir mit sechs Burrneshas gesprochen – weil jede aus unterschiedlichen Gründen diesen Weg gewählt hat. Bei Diana war es so, dass schon vor ihrer Geburt entschieden wurde: Egal, was kommt, wir erziehen das Kind als Jungen. Bedrie hingegen hat es selbst entschieden. Sie war immer lieber mit Jungs zusammen. Und obwohl sie Brüder hatte, hat sie beschlossen, als Burrneshë zu leben. Sie wollte frei sein.
Und das wird dann von der Gesellschaft auch einfach so akzeptiert?
NRECAJ: Ja, total. Das Konzept der Burrneshë ist in Albanien bekannt – ich bin mit dem Begriff aufgewachsen. Manchmal hat mein Onkel zu mir gesagt: „Hey, Burrneshë.“ Und ich wusste, das ist etwas Starkes und Besonderes.
Gibt es gibt es heute noch so viele Burrneshas wie früher oder haben die Frauen in Albanien inzwischen auch andere Möglichkeiten, ein selbstbestimmteres Leben zu führen, ohne dafür ihre Weiblichkeit aufgeben zu müssen?
NRECAJ: Es gibt tatsächlich immer weniger Burrneshas. Wir schätzen, dass es vielleicht noch zwölf in Albanien gibt. Die Rechte der Frauen sind gesetzlich gleichgestellt, aber gesellschaftlich gibt es noch große Unterschiede zwischen den Geschlechtern – vor allem auf dem Land. Ich denke, junge Frauen führen heute ein immer selbstbestimmteres Leben, auch in Albanien. Sie studieren vielleicht im Ausland, kehren zurück und bauen sich etwas auf – ohne auf Beziehung oder Familie verzichten zu müssen.
Beim Thema Burrneshë reden wir automatisch auch viel über Geschlechter und Geschlechterrollen. Gerade in westlichen Ländern wird in den letzten Jahren eine sehr erbitterte Debatte darüber geführt, Transgender ist ein regelrechtes Reizwort geworden. Gibt es in diesem Zusammenhang etwas, das man von den albanischen Burrneshas lernen kann oder ginge das ganz am Thema vorbei?
NRECAJ: Ich kann nur sagen, was ich persönlich von den Burrneshas gelernt habe. Als wir sie bei den Dreharbeiten immer wieder besucht haben, habe ich anfangs auch versucht, zwischen männlich und weiblich zu kategorisieren. Das macht unser Gehirn ganz automatisch. Aber ich habe gemerkt, dass mein Verstand das gar nicht wirklich fassen kann, was da gerade passiert. Irgendwann habe ich gedacht: Wenn ich jetzt weiterhin versuche, einzuordnen, dann verpasse ich den Menschen vor mir. Ich habe dann losgelassen – und da ist etwas ganz Magisches passiert: Ich hatte das Gefühl, wirklich mit dem Menschen in Verbindung zu sein. Das Geschlecht spielte keine Rolle mehr, und die Diskussion darüber wurde ruhig in mir. Wir haben versucht, das im Film so zu erzählen, dass auch die Zuschauer irgendwann loslassen – und einfach nur die Geschichten und Menschen wahrnehmen, ohne über das Geschlecht nachzudenken.
Wann kann man denn den Film „wo/men“ hier in Ulm oder Neu-Ulm sehen?
NRECAJ: Der Film läuft ab dem 15. Mai im Mephisto. Ich selbst bin am 18. Mai um 19:30 Uhr für ein Filmgespräch dort und freue mich schon sehr darauf, alte Bekannte, Freunde und Familie wiederzusehen – und natürlich auf ganz viele Zuschauer.
Zur Person: Die Regisseurin Kristine Nrecaj ist in Leibi aufgewachsen. Heute lebt und arbeitet die xx-Jährige in Berlin.
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