Sarah Gradtke wacht erst am Mittag auf. Dennoch ist der Tag für die junge Frau kaum zu bewältigen. Ihr Leben beschränkt sich auf das kleine Schlafzimmer im ersten Stock, hier in der Wohnung ihres Freundes in Illertissen. Draußen, an der frischen Luft, war die Ulmerin das letzte Mal vor vier Monaten. „Für mich gibt es nichts anderes. Nur das Bett.“ Hier liegt Sarah Gradtke, in der Hoffnung, dass die Schmerzen nicht noch schlimmer werden.
Der Moment, der bei Sarah Gradtke alles veränderte
Bevor sie Hilfe beim Duschen, beim Laufen und beim Essen benötigte, lebte Gradtke das, was man ein ganz gewöhnliches Leben nennt. Sie fuhr zur Arbeit, ging einkaufen, aß aufrecht am Küchentisch. Sie war eine sportliche und selbstständige Frau, die ihre Zeit am liebsten beim Tennis, Klettern und Kochen verbrachte. Sie hatte Freude am Leben. „Ich hatte Zukunftspläne“, sagt die 35-Jährige heute. Doch an einem Mittag im August 2022 sollte sich all das nachhaltig verändern. Beim Spielen mit ihrer Hündin Dia verlor Gradtke das Gleichgewicht, stürzte und stieß mit dem Kopf gegen eine verschlossene Tür. Aus Angst vor einer Fraktur fuhr sie ins Krankenhaus. „Einfach um abzuklären, ob alles in Ordnung ist.“ Das Röntgenbild zeigte keine Auffälligkeiten, aber ein ungutes Gefühl blieb.
Zwei Monate später setzten die ersten Beschwerden an der Halswirbelsäule ein – begleitet von starkem Schwindel und Gangunsicherheit. Sie suchte wieder einen Arzt auf, doch der führte ihre Symptome nur auf Stress zurück. Sie kann die Wut in ihrer Stimme nicht verbergen, wenn sie über deutsche Ärzte spricht. Kein Arzt, kein Neurologe konnte ihr weiterhelfen, keiner eine fundierte Diagnose stellen. Auf den etlichen MRTs ihrer Wirbelsäule erkannten selbst Spezialisten keine Ungereimtheiten. Doch Gradtkes Symptome verstärkten sich weiter. Sehprobleme und Tinnitus kamen hinzu, unerträgliche Schmerzen bis zur spontanen Bewusstlosigkeit. „Ich habe meinen Kopf in die falsche Richtung gedreht und mir ist schwarz vor Augen geworden. Ich bin einfach umgefallen.“
Kraniozervikale Instabilität: Die Lebensqualität sinkt auf ein Minimum
Ende 2023 – über ein Jahr nach dem ersten Sturz – stieß sie auf Foren im Internet, in denen auch andere Menschen von ähnlichem Leid berichteten. Dort erhielt sie den Rat, eine „Upright-MRT“ in München machen zu lassen. Dabei wird die Magnetresonanztomografie im Sitzen und nicht, wie sonst üblich, im Liegen durchgeführt. Erst so könnten Instabilitäten in der Halswirbelsäule gut erkannt werden. Dennoch waren die Ärzte in München nicht in der Lage, nach diesem MRT eine Diagnose zu stellen. Deswegen schickte Gradtke die Ergebnisse an eine Fachklinik in Barcelona, welche auf die Operation instabiler Halswirbelsäulen spezialisiert ist. Und tatsächlich fanden die spanischen Neurochirurgen Unregelmäßigkeiten auf ihren Bildern. Im Mai 2024 wurde die Ulmerin vor Ort untersucht. Endlich bekam sie eine Erklärung für ihr Leiden: Schwere Kraniozervikale Instabilität, kurz CCI.

CCI, im Volksmund auch „Wackelkopfsyndrom“ genannt, beschreibt eine Überbeweglichkeit im Bereich der Halswirbelsäule. Normalerweise werden die Halswirbel durch Muskelbänder stabilisiert. Sind die Bänder beschädigt, drücken die Wirbel auf das Rückenmark, Nerven und den unteren Hirnstamm. Wie Sarah Gradtke leiden Betroffene an starken Schmerzen, Schwindel und Bewegungseinschränkungen. Manche haben Schwierigkeiten zu atmen. Die Lebensqualität sinkt auf ein Minimum. Dr. Bastian Stemmer, Facharzt für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Augsburg, kennt Gradtkes Fall nicht. Doch er weiß, wie gravierend die Auswirkungen einer CCI sein können. Bei einer schweren Instabilität der Halswirbelsäule drohe die Gefahr einer Querschnittslähmung. Eine solche Instabilität könne zu neurologischen Ausfällen und in letzter Konsequenz bis zum Tod führen.
Auch andere Menschen teilen das Schicksal der Ulmerin
CCI wird häufig durch Traumata, beispielsweise bei Autounfällen, ausgelöst. Aber auch Vorerkrankungen können zu einer instabilen Wirbelsäule führen, sagt Stemmer. Gradtke ist selbst von einer solchen Krankheit betroffen: Sie leidet am Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS), das für eine übermäßige Dehnbarkeit des Bindegewebes und eine verminderte Grundspannung der Skelettmuskulatur sorgt. In der Folge können die Knochen nicht richtig fixiert werden. Es kommt zu einer Instabilität. Viele Betroffene erleiden zusätzliche Schmerzen, weil das Rückenmark mit dem umliegenden, zu lockeren Gewebe verwachsen kann. Auch diese Diagnose erhielt die 35-Jährige während ihrer Untersuchung in Barcelona: „Es war einfach ein Schock.“
Und sie ist damit nicht allein. Sarah Althoff aus dem oberschwäbischen Biberach teilt dasselbe Schicksal. Bei ihr setzten die Symptome im Jahr 2019 während ihrer Ausbildung bei der Post ein. Auch ihr Zustand verschlechterte sich zunehmend, bis sie schließlich völlig ans Bett gefesselt war. Am 18. Oktober 2021 schrieb Althoff auf Instagram: „Oft bin ich wütend, weil ich mein Leben nicht so führen kann wie früher. Wütend darauf, dass sich Menschen von mir abwenden, weil sie nicht mehr wissen, wie sie mit mir umgehen sollen.“ Auch sie suchte etliche ratlose Ärzte auf.
Viele Ärzte stellen eine Fehldiagnose
Auch sie erhielt lange keine Diagnose, bis sie sich nach Eigenrecherche für eine Upright-MRT an einer Privatklinik entschied. Auch bei ihr konnte die Erkrankung erst von den spanischen Experten festgestellt werden. „Das macht einen dann auch wütend. Man denkt, wenn die Ärzte mir nicht helfen, wer soll mir dann noch helfen können.“ Doch die Diagnose von Kraniozervikaler Instabilität ist alles andere als einfach zu stellen, erklärt der Augsburger Neurochirurg Stemmer. „Wenn man eine Fraktur sieht, versteht jeder, dass da der Knochen gebrochen ist. Aber eine Mikroinstabilität sehe ich im Röntgen und MRT nicht eindeutig. Das ist unser Problem.“ Man müsse sich bei der Indikation sehr auf die Aussagen des Patienten verlassen, betont Stemmer, der selbst Operationen an der Wirbelsäule durchführt und sich mit dem Krankheitsbild gut auskennt.

Bei vielen Betroffenen dauert es Jahre, bis sie eine Diagnose bekommen. Jahre, in denen die Schmerzen so lange zunehmen, bis sich das alltägliche Leben auf ein Bettgestell und das Badezimmer beschränkt. Sarah Gradtke liegt seit Monaten im Bett. Durch die schmalen Fensterluken dringt etwas Licht in das sonst dunkle Zimmer. Rechts neben ihr steht ein kleiner Tisch, den sie über sich ziehen kann, an dem sie ihre Mahlzeiten zu sich nimmt. Die 35-Jährige ist verzweifelt. „Ich habe auch viele Momente, wo ich sage, ich habe keinen Bock und keine Lust mehr.“ Auf dem Boden neben dem Bett liegt eine Halskrause, die sie sich anlegt, wenn sie doch einmal auf die Toilette muss – in das Bad direkt neben dem Schlafzimmer. Eine steile Treppe verwehrt ihr den Gang ins Erdgeschoss.
Eine Operation in Spanien könnte Sarah Gradtkes Leben retten
Von ihrem einstigen Leben ist kaum etwas übrig geblieben. Kein Sport, keine Arbeit, keine Kontakte. Alles dreht sich nur noch um die Krankheit. Darum, dass ihr Körper nicht noch weiter abbaut. Zu ihren damaligen Freunden hat sie den Kontakt verloren. Einzig ihr Lebensgefährte und ihre Familie sind noch für sie da. „Wie sich das Leben in zwei Jahren so verändern kann. Ich glaube, dass kann sich niemand vorstellen.“ Aber Sarah Gradtke hat noch eine Hoffnung: Eine Versteifungsoperation könnte ihre Rettung sein. Bei einer solchen Operation werden die losen Halswirbel miteinander verschraubt. In der Folge verwachsen die Knochen, sodass der Wirbelkomplex auch ohne straffe Bänder stabil bleibt.
Aber auch dieser Eingriff muss im Ausland stattfinden. Dabei wäre solch eine Operation gut in Deutschland machbar, erklärt Neurochirurg Stemmer. Aber nur die wenigsten deutschen Ärzte sind dazu bereit. „Es ist eine schwierig zu diagnostizierende und zu objektivierende Erkrankung. In vielen Fällen wird man die Instabilität nicht eindeutig rausmessen können.“ In letzter Konsequenz könnte das für den behandelnden Arzt juristische Folgen haben. „Viele Ärzte sind bei dieser Indikation nicht zur Operation bereit.“

Außerdem müsse man sich bewusst sein, dass eine Versteifung im Bereich der Halswirbelsäule einen erheblichen Bewegungsverlust bedeutet. „Sie können ihren Kopf weder neigen noch drehen.“ Die Operation sollte also die letzte Option sein – die Ultima Ratio. Gradtke setzt dennoch Hoffnung in die Versteifung. Für sie ist sie eine Chance, etwas an Lebensqualität zurückzugewinnen. „Ich wäre so unglaublich dankbar, wenn ich morgens aufstehen, mir meinen Kaffee machen und dann mit dem Hund draußen spazieren gehen könnte.“ Und ihre Hoffnung ist nicht unbegründet. In Onlineforen und Zeitungsartikeln berichten viele Betroffene von erfolgreichen Versteifungsoperationen.
Deutsche Krankenkassen lassen Betroffene im Stich
Darunter ist auch Sarah Althoff aus Biberach. Sie wurde im Juli 2022 in der Spezialklinik in Barcelona operiert. Einen Monat später postete sie auf Instagram: „Ich habe heute fast sechs Stunden aufrecht gesessen, war Kaffee trinken und habe einen kleinen Spaziergang gemacht.“ Ende des Jahres schrieb sie: „Ich habe wieder ein Leben, Träume und Pläne.“ Die Genesung dauerte lange und verlief nicht ohne Komplikationen, doch in Althoffs Fall hat sich die Geduld gelohnt. Mittlerweile geht sie wieder Wandern, war in den Alpen, in den schottischen Highlands und in Straßburg, wo sie fast 20 Kilometer gegangen ist. Was die Operation betrifft, ist sie sich sicher: „Ich würde es jederzeit wieder machen.“
Aber die Behandlung ist nicht nur kompliziert, sondern auch kostspielig. Die gesetzlichen Krankenkassen stellen sich quer, weil die Operation im Ausland stattfindet. Selbst in Deutschland werden zwingend notwendige Diagnoseverfahren, wie die Upright-MRT, nicht von den Kassen übernommen – zulasten schwer erkrankter Menschen. Deshalb können sich viele Betroffene die Operation in Spanien nicht leisten. „Mein privates Vermögen habe ich komplett für die Voruntersuchung ausgegeben“, sagt Gradtke. Auch ihre Halskrause, den Rollstuhl und den Duschhocker musste sie aus eigener Tasche bezahlen. Sie ist enttäuscht, fühlt sich von den Krankenkassen „links liegen gelassen“. Neurochirurg Stemmer kennt die Problematik: „Grundsätzlich ist die Anerkennung der Kraniozervikalen Instabilität als Krankheit bei den Kassen nicht gesichert und muss im Einzelfall abgeklärt werden. Das ist sicherlich ein Problem für die Patienten.“ Sarah Gradtkes Operation soll am 5. März in Barcelona stattfinden und wird sie 120.000 Euro kosten. Geld, das die Ulmerin nicht hat.
Keine Aussicht auf Besserung ohne Spenden
Aber Sarah Gradtke hat sich entschieden zu kämpfen. „Ich will wieder eigenständig duschen gehen oder am Tisch sitzen und essen. Ich will wieder am Leben teilhaben“, sagt sie mit zitternder Stimme. Für sie ist die Operation eine Notwendigkeit. Deswegen sammelt die Ulmerin gemeinsam mit dem Verein „Zusammen Berge Versetzen“ auf der Online-Plattform Gofundme Spenden. Geld, das ihr ermöglicht, wieder ein erfüllendes Leben zu führen. „Ich möchte einfach noch ein paar Sachen erleben und ich möchte nicht, dass es vorbei ist.“
Das ist schon mehr als traurig, wie kranke Menschen von den Krankenkassen im Stich gelassen werden. Die Beiträge steigen ständig und ich frage mich schon, ob das Geld auch wirklich dafür ausgegeben wird, wo es nötig ist - nicht für Abnehmspritzen und dergleichen. Ganz zu schweigen von den horrenden Personalkosten mit ihrer oftmals ineffizienten Arbeitsweise
Abnehmspritzen und Ähnliches sind keine Kassenleistungen.
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