Von außen war es eine Bilderbuchfamilie: Vater, Mutter, drei Kinder. Die Eltern zeigten ihren Kindern viel von der Welt, sie reisten oft, auch beruflich zog es sie gemeinsam für einige Jahre in fremde Länder. Heute ist aus der engen Fünfer-Familienbande eine Viererbande geworden. Denn die älteste Tochter - aktuell 27 Jahre alt - hat sich losgesagt von ihrer Familie. Vor sieben Jahren hat Monika Schubert (Name geändert) ihr Kind zum letzten Mal gesehen. Wie es ihr heute geht, weiß sie nicht. Alles, was sie zu wissen glaubt, hat sie zufällig erfahren, meistens irgendwo im Internet.
Eine Betroffene hat in Ingolstadt eine Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern gegründet
Warum will die Tochter nichts mehr von uns wissen? Auf diese Frage hat Schubert bislang keine Antwort gefunden. Ihr geht es damit genauso wie den meisten verlassenen Eltern und Großeltern. Zu der Frage nach den Gründen gesellen sich oft noch Schuld- und Schamgefühle. Um den Betroffenen einen Austausch zu ermöglichen, hat sie in Ingolstadt eine Selbsthilfegruppe gegründet. Sie richtet sich an Menschen, deren erwachsene Kinder und Enkel sich ganz bewusst von ihrer Familie entfernt haben. Ihr selbst hat eine vergleichbare Gruppe an ihrem früheren Wohnort in Norddeutschland sehr geholfen, sagt Schubert. Sie konnte zwar mit ihren Freunden reden, die haben ihr auch zugehört, „aber das volle Verständnis hat niemand“.
Ihre Tochter, das erste von drei Kindern, sei „ein absolutes Wunschkind“ gewesen, berichtet Schubert. Freunde habe sie um ihr lebenslustiges, redegewandtes, impulsives Mädchen beneidet. Doch es gab auch schon immer diese andere Seite der Tochter, die den Eltern so fremd war. Denn sie war nicht nur ein cleveres und pfiffiges Kind, sondern auch ein wahnsinnig wütendes Mädchen. Klappte etwas nicht, wie sie es sich vorgestellt hatte, dann ließ sie sich vor Zorn und Ärger kaum beruhigen. Das fing im Babyalter an und setzte sich über die Jahre fort. „Unglaublich anstrengend“ sei das gewesen, sagt Schubert. Im Kindergarten und in der Schule eckte die Tochter bald an, sie fand kaum Freunde, wurde gemobbt. Sämtliche Erziehungstipps liefen ins Leere. Doch ein Psychologe, den die Eltern bereits im Kindergarten zu Rate gezogen hatten, wiegelte ab: „Alles in Ordnung.“
Die Entfremdung zwischen der Tochter und ihrer Familie nahm immer weiter zu
Trotz aller schulischen Probleme und Konflikte bestand die Tochter ihr Abitur. Gerade zu jener Zeit, als die Eltern mit den Kindern erneut ins Ausland ziehen wollten. Doch die Älteste, inzwischen 18 Jahre alt, wollte nicht mehr mit. Sie blieb im Haus wohnen und begann ein Studium in der nahen Stadt. Zwei Entscheidungen, die das Verhältnis zwischen Eltern und Tochter in den folgenden Monaten und Jahren noch enorm belasten sollten.
Mit der räumlichen Entfernung nahm auch die emotionale Distanz immer weiter zu. Gegenseitige Besuche endeten oft im Streit. Die Tochter warf den Eltern vor, sie zum Studium gezwungen zu haben und sie als Putzfrau im eigenen Haus zu missbrauchen, Schubert und ihr Mann wiederum kritisierten, dass die junge Frau all diese Lügen auf ihren Social Media Accounts öffentlich kundtat, „sie hat uns als schlechte Eltern dargestellt“. Letztendlich zog die Tochter in eine eigene Wohnung - und der Kontakt brach nahezu vollständig ab. Die neue Adresse haben die Eltern nie erfahren. Bald darauf wurden die beiden Geschwister über das Handy blockiert, später wollte sie auch für die Eltern nicht mehr erreichbar sein. „Ich hab gemerkt, wie sie mir immer mehr entgleitet“, sagt Schubert.
Einmal im Jahr hat sie den Großeltern eine Karte geschickt - es war nahezu das einzige Lebenszeichen. „Unsere Tür blieb immer offen“, sagt Monika Schubert. Doch zurückgekehrt ist die Tochter nicht mehr. Allein zur Trauerfeier ihres Opas ist sie gekommen, zuerst gänzlich unbemerkt von der Familie. Später dann am Tag hat sie jedes Gespräch verweigert. Es sollte das letzte Mal sein, dass die Familie ihre Tochter gesehen hat. Damals war sie 20 Jahre alt.
Wenn Kinder den Kontakt abbrechen, haben Eltern oft Schuldgefühle
Hin und wieder hat Monika Schubert, die inzwischen in der Region Ingolstadt lebt, Hinweise bekommen, wo ihre Tochter hingezogen sein könnte, wo sie inzwischen arbeitet, „aber das sind alles Vermutungen“. Ob sie ihr Studium abgeschlossen hat? „Ich glaube, ja“, sagt Schubert. Gezielt sucht sie nicht nach Informationen im Netz, „das wäre in gewisser Weise ja Stalking“. Sie will versuchen, die Entscheidung ihrer Tochter zu akzeptieren, „irgendwann muss man ja aufhören“.
Dass Kinder den Kontakt zu ihren Eltern völlig abbrechen, „das kommt selten aus heiterem Himmel“, weiß Schubert. Manchmal lassen sich offensichtliche Gründe finden, sei es eine Drogenabhängigkeit bei den Kindern oder Gewalt in der Kindheit. Manchmal lassen sich nur Vermutungen anstellen: Ist der neue Partner schuld? Hatte mein Transkind Angst vor einem Outing? Ist es in eine Sekte abgerutscht? Leidet es an einer psychischen Erkrankung? Egal, was die Ursachen sind: Schuld- und Schamgefühle kennen fast alle Eltern, die sich in einer solchen Situation befinden. Immerhin liegt der Verdacht nahe: Da müssen doch die Eltern schuld sein. Auch Monika Schubert hat nach Fehlern gesucht. Vielleicht hätte ich darauf drängen sollen, dass sich mein KInd Hilfe bei einem Psychologen sucht? war eine der Fragen. Antworten hat sie nie gefunden.
Inzwischen hat sie die Hoffnung aufgegeben, dass ihre Tochter zurückkehren wird. Stünde sie einiges Tages doch vor ihrer Haustür, „würde ich sofort die Arme aufmachen“.
Info Die Selbsthilfegruppe „Verlassene Eltern“ trifft sich jeden zweiten Mittwoch im Stadtteiltreff Konradviertel in Ingolstadt. Informationen gibt es per Mail an verlasseneeltern.in@gmail.com oder telefonisch unter der Nummer 0841/305-1465.
Also, wenn die Eltern mit der Tochter seit Jahren massiven Zoff und Ärger haben, ist es doch kein Wunder, dass die Tochter den Kontakt abgebrochen hat. Egal jetzt, wer "schuld" ist, scheinbar funktioniert es halt einfach nicht. Wenn ich so Zoff mit meinen erwachsenen Kindern hätte, dann wäre auch kein Kontakt zu Kindern und Enkeln da.
Eine Lebenserfahrung zeigt, dass Empathie und Gemeinschaft immer weniger "in Mode" ist. Die Kirchen sind sichtbares Zeichen, aber auch verlassene Eltern oder Elternteile. Die Gesellschaft ist insgesamt egoistischer und kälter geworden, das erwachen kommt erst dann, wenn man vielleicht selber auf Empathie und Gemeinschaft angewiesen ist. Dann stellt man vermutlich fest, dass man lange suchen muss, um Verständnis zu finden. Und vielleicht dämmert es dann manch einem Zeitgenossen, dass der eigene Egoismus kein guter Ratgeber war.
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