
Menschen, Tiere, Informationen

Hermann Sagemüller führt in Baldingen das wohl größte Zirkus-Archiv Deutschlands
Nördlingen Das Schlüsselerlebnis kann er auf den Tag genau festmachen: Am 23. Juli 1956 schrieb Hermann Sagemüller eine Prüfung an der Berufsschule in Münster, sein Banknachbar überredete ihn danach zu einem Zirkusbesuch. Dort sah er den Jongleur Italo Medini und war wie vom Donner gerührt – die Faszination für das Jonglieren hatte ihn völlig vereinnahmt. Er ging nach Hause, suchte Flaschen und andere Gegenstände zusammen, um es selbst zu versuchen. Sicherlich wäre er professioneller Jongleur geworden, hätten die Lebensumstände es nicht erfordert, seinen Beruf als Schriftsetzer, den er erlernte, auszuüben. So schlug sich die Faszination darin nieder, dass er alles sammelte, was er über Jongleure und Zirkusse bekommen konnte und lange Freundschaften mit zum Teil weltberühmten Künstlern pflegte; die Korrespondenz mit ihnen füllt mehrere Kisten. Eine Original-Keule des Jonglier-Weltmeisters Rudi Horn hängt bei ihm in Baldingen an der Wand; ebenso wie ein Foto von Felix Adanos, der zwei aufeinander gestellte Billardstöcke auf der Stirn balanciert und mit einer Pistole eine Billardkugel hoch schießt, die auf dem oberen Stockende liegen bleibt. Die Pistole bewahrt der Sammler in einem Zimmer voller anderer Original-Requisiten auf.
Seit Jahrzehnten hält Hermann Sagemüller mit wissenschaftlicher Akribie alles fest, was er an Meldungen, Plakaten, Zeitschriften, Werbung und anderen Informationen findet. Mehrere Zimmer seines Hauses bestehen aus Archiv, ganze Wände sind voller Ordner, genauestens nach Themen und Stichwörtern geordnet. Allein der Punkt „Nördlinger Zirkusgeschichte“ füllt fünfzehn Leitz-Ordner mit Kopien aus Zeitungen und Ratsbüchern des Stadtarchives. Am Anfang, 1468, steht eine Katastrophe: Als zur Mess’ ein Kamel durch die Stadt geführt wird, drängen sich nicht nur in den Straßen und Gassen die Schaulustigen – auf den hölzernen Übergang zwischen Tanzhaus und Hummelhaus quetschten sich so viele Menschen, dass er zusammenbrach und 13 Menschen in den Tod riss oder erschlug. Das tat der Begeisterung für Menagerien, Zirkusse, Zauberkünstler, täuschend echte Enthauptungen, Kunstreiter oder Panoramen mit Attraktionen aus aller Welt keinen Abbruch. Sagemüller zeigt ein Foto von 1889, das einen Fahrrad-Artisten der berühmten Seiltänzerfamilie Knie auf dem Hochseil über dem Weinmarkt zeigt. Sagemüller arbeitet gerade intensiv an einer Dokumentation über diese Künstlerdynastie, denn die Urahnin stammt aus Wemding. Er belegt Glanz und Elend der Zirkuswelt: So wurde Ernst Jakob Renz vor 200 Jahren als Sohn bettelarmer Komödianten geboren, baute den berühmtesten Zirkus der Welt auf, ohne ein Wort lesen und schreiben zu können und starb 1892 als fünfzehnfacher Millionär. Andererseits berichtet eine Aalener Zeitung, wie eine Frau aus dem fahrenden Volk in Nördlingen mitten auf der Straße ihr Kind gebären musste, weil niemand sie ins Haus ließ. Das Archiv mit den Aalener Zirkusberichten stammt von einem Gleichgesinnten Sagemüllers: „Ich bin nicht der einzige Zirkusverrückte.“ Ganz im Gegenteil, er ist Teil eines weltweiten Netzwerks, tauscht sich mit Zirkusfreunden in den USA und Australien aus, besucht zusammen mit seiner Frau Hanne Zirkusvorstellungen und immer wieder große Artisten. Und er jongliert selbst – 1980 gewann er sogar die Amateurmeisterschaft in Schottland.
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