
Wie ein Gartenhäuschen aus Müll zum Symbol der Wende wurde

Gebaut aus Sperrmüll, ein Balkon aus einem Lattenrost: Das Gartenhäuschen des 90-jährigen Osman Kalin wurde in Berlin zu einem Symbol der Wende. Wie es dazu kam.
Der 90-jährige Osman Kalin sitzt vor seinem Haus in einem weißen Plastikstuhl und winkt den vorbeilaufenden Touristen zu. Manchmal gibt der Türke mit dem langen, weißen Bart und der Gebetskappe den Vorbeilaufenden auch einen Handkuss. Kalin ist zu einer Berliner Sehenswürdigkeit geworden – besser gesagt sein Gartenhaus. Es ist ausschließlich aus Sperrmüll gebaut und steht samt Garten auf einer kleinen Verkehrsinsel mitten in Kreuzberg. Genau an dieser Stelle verlief früher die Berliner Mauer, die die Stadt in Ost und West teilte.
Als der pensionierte Bauarbeiter 1925 im anatolischen Yozgat geboren wurde, ahnte er nicht, dass er zu einem Symbol der deutschen Wiedervereinigung werden würde. In den sechziger Jahren kam er nach Deutschland. 1980 zogen er und seine Frau mit ihren sechs Kindern nach West-Berlin. Im damals noch heruntergekommenen Kreuzberg fand die Familie neben der Mauer am Bethaniendamm eine Wohnung, aber Kalin vermisste einen Garten.

Doch genau vor der Wohnung gab es einen kleinen, unbebauten Grünstreifen. Das dreieckige Stück Land lag direkt im Mauerstreifen, galt somit als Niemandsland, gehörte aber zur DDR. Kalin war das egal. Er fing an, Zwiebeln, Knoblauch und türkischen Schwarzkohl anzupflanzen, sammelte in Kreuzberg Sperrmüll und baute sich um einen Baum ein Gartenhäuschen.
Kalin fand Verwendung für alles in seinem Gartenhäuschen
Alte Lattenroste und Laminatböden, verrostete Kühlschrankgitter oder Bauzäune. Für alles fand Kalin noch eine Verwendung. Das einst kleine Gartenhäuschen wuchs zu einem Wohnhaus. Die Grenzer der DDR, die das Treiben zunächst sorglos betrachteten, wurden skeptisch: Will da jemand einen Fluchttunnel bauen und tarnt ihn als Schrebergarten? Der Gastarbeiter bekam bald Besuch von zwei DDR-Soldaten. Sie wollten wissen, was er treibt. „Lediglich einen kleinen Gemüsegarten für mich und meine Familie anbauen. Ich bin ein Mann, der auf seine alten Tage ein bisschen gärtnern möchte“, erwiderte Kalin, so erzählt es sein Sohn Mehmet Kalin. Auf DDR-Seiten sei man nicht darüber erfreut, sagte einer der Grenzsoldaten. Es wurde laut, die Situation drohte zu eskalieren. „Ich weiß nicht wie, aber mein Vater hat es irgendwann geschafft, die Soldaten davon zu überzeugen, dass er das kleine Stück Land weiter bewohnen und bewirtschaften darf“, schildert Mehmet Kalin. Unter einer Bedingung: Das Haus durfte nicht höher als die Mauer werden.
Bald wuchsen Tomaten, Gurken, Wein, Mirabellen und Kirschen. Unbehelligt schaffte sich der Rentner eine Oase. Tagsüber arbeitete er in Haus und Garten, abends ging er zum Schlafen in die gegenüberliegende Wohnung. Die West-Berliner ließen ihn in Ruhe und die Grenzsoldaten, die er nun auf seiner Seite hatte, schenkten ihm Wein und Kekse zu Weihnachten. Das ging solange gut, bis die Mauer fiel.
„Innerhalb von einem Tag war sie einfach weg“, erinnert sich sein Sohn. „Ich bin frühmorgens zur Arbeit und als ich abends wieder nach Hause kam, war sie verschwunden.“ Plötzlich war das Anwesen nicht mehr am Rande West-Berlins, sondern mitten in einer wiedervereinten Stadt. „Das war schon gewöhnungsbedürftig“, erinnert er sich.
Sondernutzungsgenehmigung auf Lebenszeit für Kalin
Mit dem Fall der Mauer war die Ruhe vorbei. Das zuständige Bezirksamt Berlin-Mitte meldete sich bei Osman Kalin, drohte ihn wegen illegaler Nutzung mit einem Entzug der Fläche. Doch Kalin weigerte sich, zu gehen. Anwohner, das Bezirksamt Kreuzberg und die Kirchengemeinde unterstützten ihn. Sein Haus gehöre zum Stadtbild, so das Argument. Schließlich durfte er das Grundstück behalten. Als sich 2004 die Berliner Zuständigkeitsbereiche änderten und das Grundstück an Kreuzberg überging, erhielt Osman Kalin eine Sondernutzungsgenehmigung auf Lebenszeit.
Gartenarbeit macht Osman Kalin nicht mehr, denn inzwischen ist er an Alzheimer erkrankt. Er genießt es aber, täglich in seinem Stuhl zu sitzen und den Hauptstadtverkehr zu beobachten. Weil der Mauer-Tourismus in den vergangenen Jahren zugenommen hat, laufen täglich hunderte Touristen an seinem Haus vorbeilaufen – und Kalin grüßt sie freundlich. Das Baumhaus an der Mauer, wie es offiziell heißt, ist ein fester Programmpunkt jeder geführten Mauer-Tour geworden. Die Besucher bewundern das zerbrechlich wirkende Baumhaus. Mittlerweile ist es mit viel buntem Graffiti vollgesprüht und hat sogar einen zweiten Stock hinzubekommen – mit einem Balkon aus Lattenrosten.
„Die Not macht erfinderisch. Das war schon immer das Motto meines Vaters“, sagt Mehmet Kalin. Der Sohn hofft, das Anwesen auch nach dem Tod seines Vaters weiter nutzen zu können. Das Grundstück stehe schließlich für die Wende und die türkischen Gastarbeiter im wiedervereinten Deutschland. „Das kann uns doch keiner mehr nehmen.“
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