"Das schweigende Klassenzimmer": Wenn Schüler stillen Protest üben
Die brutale Niederschlagung des Ungarn-Aufstands schockierte Abiturienten. Ihre spontane Aktion aber hatte weitreichende Folgen im repressiven System der DDR.
Eine Minute kann lang sein, wenn eine Schulklasse sich dazu entschieden hat, den Lehrer anzuschweigen. Tatsächlich waren es damals, anders als im Film, sogar fünf Minuten, in denen die 12. Klasse der Kurt-Steffelbauer-Schule in Storkow am 29. September 1956 keinen Mucks von sich gab. Nicht um ihren Geschichtslehrer zu ärgern, sondern aus Solidarität mit den Aufständen in Ungarn, die gerade von den Panzern der Roten Armee niedergeschlagen wurden.
Die im Grunde harmlose Protestaktion hatte für die angehenden Abiturienten dramatische Folgen. Der damalige Volksbildungsminister Fritz Lange nahm sich höchstpersönlich der Angelegenheit an und da die Schüler sich weigerten, einen Rädelsführer zu benennen, wurde die gesamte Klasse von der Schule geworfen mit der Gewissheit, dass keiner von ihnen in der DDR je Abitur machen konnte.
Regisseur Lars Kraume bricht mit DDR-Stereotypen
In "Das schweigende Klassenzimmer" rekonstruiert nun Lars Kraume – dem Buch von Dietrich Garstka folgend – die Geschichte für das Kino, weil er in dem rebellischen Aufbegehren und der Zivilcourage der Jugendlichen ein zeitloses Thema sieht. Kraume hat die Handlung von Storkow nach Eisenhüttenstadt verlagert, das damals noch Stalinstadt hieß. Sie war eine sozialistische Vorzeigesiedlung, die den Arbeitern eine Wohn- und Lebensqualität bot, von der die Stahlkocher im Ruhrgebiet nur träumen konnten.
Gezielt bricht Kraume mit den stereotypen Bildern grauer DDR-Tristesse, mit denen Kino und Fernsehen immer wieder kokettieren. Auch sonst ist "Das schweigende Klassenzimmer" sichtbar um Differenziertheit bemüht, ohne den Konflikt zwischen den Jugendlichen und dem repressiven Gesellschaftssystem herunterzudimmen.
Darum geht´s in "Das schweigende Klassenzimmer"
Als Theo (Leonard Scheicher) und Kurt (Tom Gramenz) bei einem Kinoausflug nach Westberlin die Wochenschaubilder von den Aufständen in Ungarn sehen, kehren sie aufgewühlt und voller Tatendrang nach Hause zurück. Auch die Mitschüler sind empört über die Ereignisse und selbst wenn sich einige nicht ganz sicher sind, beteiligt sich die ganze Klasse an der Schweigeminute. Der junge Rektor Schwarz (Florian Lukas) würde die Angelegenheit als Jugendstreich unter den Teppich kehren.
Aber Schulamtsleiterin Kessler (Jördis Triebel) bekommt Wind von der Sache und wenig später fährt Minister Lange (Burghart Klaußner) mit einer schwarzen Limousine auf den Schulhof. Lange ist überzeugter Kommunist, der für seine politischen Ansichten von den Nazis ins KZ gesteckt wurde. Wütend öffnet er den Hemdkragen und zeigt den Schülern die Narbe am Hals von jener Schlinge, an der die SS ihn aufgeknüpft hat. Klaußner spielt diesen Parteigenossen nicht als ideologischen Betonkopf, sondern als emotionalen Überzeugungstäter, in den sich die im NS-Regime erlittenen Qualen tief eingeschrieben haben.
In Verhören wird versucht, einen Rädelsführer ausfindig zu machen, den man an den Pranger stellen könnte. Deutlich wird hier das perfide Repressionssystem vor Augen geführt, das bei Verrat und Selbstbezichtigung Vergebung verspricht und immer stärkere Sanktionen auffährt, als die Schüler sich kollektiv verweigern. Überzeugend agieren die jungen Darsteller, die den Idealismus ihrer Figuren mit Leben füllen und die moralischen Entscheidungsprozesse der Schüler differenziert auffächern. "Das schweigende Klassenzimmer" wird sicher lange als Schulfilm bestehen. Gut so, denn es gibt wenige Filme, die die historische Distanz zur DDR-Geschichte derart glaubwürdig auflösen.
Die Diskussion ist geschlossen.