Deshalb müssen die Litfaßsäulen in Berlin verschwinden
Mehr als 160 Jahre waren die Litfaßsäulen fester Bestandteil von Berlin. Ein umtriebiger Verleger hatte sie eingeführt. Warum sie nun verschwinden müssen.
Mehr als 160 Jahre war sie fester Bestandteil von Berlin: die Litfaßsäule. Schon aus der Kaiserzeit kennt man Fotografien, auf denen noble Berliner mit Zylinder auf dem Kopf gespannt die neuesten Informationen auf der Säule betrachten.
In Erich Kästners Buchklassiker „Emil und die Detektive“ nutzen die jungen Helden die Litfaßsäulen, um heimlich einen Dieb auszukundschaften. Die runden Kolosse verschwinden allerdings aus dem Stadtbild: Bis Jahresmitte müssen die rund 2500 kultigen Säulen abgebaut werden.
Die Arbeiten haben bereits begonnen. Mit großen Hebekränen werden die schweren Säulen stadtweit aus dem Boden gehoben und verladen. Nach und nach werden sie abgebaut. Nur 50 Stück sollen übrig bleiben – sie werden unter Denkmalschutz gestellt.
Ein neuer Betreiber möchte in Berlin neue Litfaßsäulen aufstellen
Warum das alles? Nach einer Neuausschreibung der beliebten Reklameflächen hat die Betreiberfirma gewechselt. Der neue Betreiber kommt aus Süddeutschland – und der will neue Säulen aufstellen. Sie sind breiter, höher und können beleuchtet werden. Verschnörkelte Verzierungen gehören nun der Vergangenheit an.
Einheimische und Berlin-Besucher müssen bald also etwa in die Münzstraße hinter dem Alexanderplatz pilgern, wenn sie noch eine schöne alte Werbesäule sehen wollen. Zwischen angesagten Läden für trendige Mode und schraubenlose Brillen steht dort das bronzefarbene Litfaßdenkmal, das nicht von den Abrissmaßnahmen betroffen ist.
Die mächtige Säule ist verziert mit Bildern und Schriftstücken, die an den „König der Reklame“ erinnern. Ernst Litfaß, umtriebiger Druckereibesitzer, Verleger und Erfinder, stellte 1855 dort die erste „Annonciersäule“ in Berlin auf. Die Idee hatte er von seinen Bildungsreisen aus London und Paris mitgebracht.
Der „Werbekönig“, wie Litfaß auch genannt wurde, wollte so die Wildplakatierung an Wänden und Bäumen in der Stadt verhindern. Bürger konnten ihre Zettel und Mitteilungen nun für wenig Geld an der Säule veröffentlichen. Die Litfaßsäule war Zeitung und öffentlicher Treffpunkt zugleich.
Wildes Plakatieren gehört wieder zum Berliner Straßenbild
Das wilde Plakatieren gehört inzwischen aber wieder zum Berliner Straßenbild: Einladungen zum „wöchentlichen Theater-Workshop“ und Kinoplakate hängen zentimeterdick übereinandergeklebt an Laternenpfählen. Für ein „Gitarren-Festival“ wird am rostigen Gitterzaun geworben.
Und für ein Theaterstück, das sich mit den Schluchten von Berlin beschäftigt – am Stromverteilerkasten. Dennoch will die neue Betreiberfirma zunächst einmal nur 1500 neue Säulen aufstellen, also 1000 weniger als bisher.
Das Sterben der alten Litfaßsäulen wird von einer Berliner Künstlerin begleitet. Sie beklebt die Säulen, die schon für den Abriss markiert sind, mit den Inschriften von Berliner Grabsteinen, zum Beispiel: „Wenn der Wind darüber weht, ist es zu spät.“ Aber nicht alle Berliner schließen sich dieser düsteren Stimmung an. Neben einen Grabspruch in der Nähe des Kanzleramts hat jemand handschriftlich auf die alte Litfaßsäule gemalt: „Save our planet“.
Möglicherweise war das ein Schüler, der die Hoffnung auf eine gute Zukunft noch nicht aufgegeben hat und an dieser Stelle freitags für den Schutz des Klimas streikt. Trotz Instagram und Co. bleibt diese Litfaßsäule also bis zur letzten Stunde ihrem Auftrag treu: unterschiedliche Meinungen abzubilden und zum Nachdenken anzuregen.
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