Die Deutschen lieben Mord und Totschlag
Deutsche Leser lieben Mord und Totschlag. Vor allem regionale Krimis kommen gut an. Und ein Ende dieses Booms ist nicht in Sicht.
In diesem Fall geht es nicht um einen Toten. Kein „Mordsspaß“ also, wie man das gerne nennt. Nichts zum Gruseln. Kein Gänsehautfeeling. Aber ein Serientäter kommt vor. Immerhin. Und spannend ist die Sache auch. Sie handelt nämlich von einem besonders langen Fortleben. So etwas ist ja auch verdächtig. Krimi-Boom und kein Ende, könnte man über diesen Fall schreiben. Aber eine ordentliche Ermittlung nimmt das Ergebnis ja auch nie vorweg!
Der Serientäter jedenfalls sitzt in München im schönen Literaturhaus oben auf der Empore. Er trägt einen dunklen Pulli, Jeans und lächelt sehr nett. Aber man weiß ja: niemals vom Äußeren auf das Innere eines Menschen schließen! Da kann einer noch so harmlos aussehen und in seinem Kopf rasen dennoch die irrsten Gedanken umher.
Kriminalromane boomen in Deutschland
Was die Sache in diesem speziellen Fall einfacher macht: dass man ja weiß, was Bernhard Jaumann sich so alles vorstellt. Man kann es nachlesen. Da werden zum Beispiel im fernen Namibia am helllichten Tag die Frau des deutschen Botschafters und ein Kind entführt und hier im nahen Freiburg in einer nasskalten Nacht ein Grab geschändet. Beides hängt zusammen. Die Frau des Botschafters ist die Nichte des Mannes, dessen Gebeine geraubt werden. So etwas denkt er sich also aus, der Kriminalautor Bernhard Jaumann, das steht in seinem neuen Roman „Der lange Schatten“. Jaumann, 57, ein gebürtiger Augsburger, der lange Jahre in Namibia lebte, würde nun eigentlich gerne über diesen Roman, seinen elften, sprechen. Deswegen hat sein Verlag ins schöne Literaturhaus eingeladen. Aber weil sein nettes Lächeln wohl doch seinem Wesen entspricht, beantwortet er auch Fragen zum vorliegenden Fall. Man hätte da mal folgende: Zum Beispiel, wie es sein kann, dass offenbar ja das ganze Land sich Monat für Monat mit blutigem Lesestoff versorgt? Und dann am Sonntagabend auch noch den Tatort glotzt (aber in Sorge ist, weil die Buben oben im Kinderzimmer wieder am Computer diese Ballerspiele machen)? Und was das eigentlich mit den Menschen anstellt? All diese Bilder, die bekommt man ja nicht mehr einfach so raus aus dem Kopf.
Jahr für Jahr kommen neue Krimis auf den Markt
An dieser Stelle ein paar Fakten. Zahlen. So etwas wie Indizien. Etwa jedes zehnte verkaufte Buch in Deutschland ist ein Krimi. Klingt gar nicht so viel, ist es aber doch, wenn man die Sache etwas genauer anschaut. Etwa ein Viertel bis ein Drittel aller verkauften belletristischen Titel nämlich hat irgendetwas mit Mord und Totschlag zu tun. Die ganzen Sachbücher, in denen Kriminalkommissare, Pathologen oder Gerichtsreporter über ihre Arbeit berichten, sind da also noch gar nicht mitgerechnet. Und vielleicht noch diese Zahl: Jedes Jahr kommen im deutschsprachigen Raum weit über 2000 Krimis neu auf den Markt. Wenn man das umrechnet, sind das mal eben 2000 neue Mordfälle pro Jahr, aufgeklärt von Kommissar Kluftinger und Kollegen. Merke: Die Fiktion ist weit gefährlicher als die Realität. Da geht die Anzahl der Mordfälle seit Jahren zurück.
Also. Was sagt da der Kriminalautor? Erst mal erhebt Bernhard Jaumann Einspruch. Es sei ja nicht so, dass nun jeder Krimis lese. Er werde oft angesprochen von Leuten, die sagen: „Ich mag ja eigentlich keine Krimis.“ Was die Menschen ihm dann aber meistens auch noch sagen, und das macht seinen Einwand ein wenig löchrig, ist dies: Seine mögen sie schon. Weil die eben anders sind.
So ist das im Krimiland Deutschland. Es gibt die einen Krimis und die anderen. Die weit verbreitete Hausmannskost, geschmacksfrei bis lecker, und die experimentierfreudige neue deutsche Krimiküche. Manchmal kann man sich wundern, was den Leuten so alles schmeckt. Vielleicht ist ja aber das auch ein Grund für den Erfolg. Dass eigentlich jeder verzehren kann, was er möchte. Eine Portion Heimat? Bitteschön. Noch eine Portion Reise? Aber klar. Eher tiefgründig? Kein Problem. Was immer der Leser will – Humor, Politik, Umwelt, Gesellschaft–, der Krimi liefert. Im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels steht das dann so: „Das Spektrum reicht vom spannungsgeladenen Thriller über die tiefenpsychologische gesellschaftliche Studie bis hin zum hochliterarischen Roman.“
Damit sich der Leser auch zurechtfindet, gibt es Erkennungszeichen. Dunkle Dornen, Blut, vielleicht ein Schwarz-Weiß-Bild – irgendetwas Psychologisches. Karierte Tischdecke und ein mörderisches Besteck – irgendetwas mit Provinz. Das steht dann meist auch drauf. Provinzkrimi eben. Oder Eiffelkrimi. Oder Weinkrimi. Oder Tierkrimi. Man kann diese Romane leicht verwechseln, wenn man nicht den Namen des Autors weiß. Dann hat man plötzlich statt des Rita-Falk-Krimis „Sauerkrautkoma“ einen von Willibald Spatz in der Tasche namens „Alpenwürstchen“ und wundert sich, warum der Kommissar Birne heißt.
Neue Krimiformate haben schnell viele Nachahmer
Oft gibt es wie im Fall des französischen Küstenkrimis einen klar zu identifizierenden Ersttäter. Dieser schreibt unter dem Pseudonym Jean-Luc Bannalec. Und dann auf einmal jede Menge Nachahmungstäter. Bezeugen kann das auch Bianca Dombrowa, Programmleiterin allgemeine Belletristik bei dtv. „Me toos“ nennt sie die Nachfolgeromane, von denen es vor allem bei den Regionalkrimis immer mehr gäbe. Bestellte cashcows, um im Jargon zu bleiben. Oder was soll man sonst denken, wenn allein im Emons-Verlag plötzlich 16 Romane unter dem Label Küstenkrimi erscheinen? Der Krimi-Kritiker Thomas Wörtche hat dafür ein Wort erfunden: „Grimmi“. Definition: „Ein eigentlich nettes, unschuldiges Ding, das niemanden stört.“ Gestrickt nach bewährtem Muster, dazwischen viel uninteressante Prosa.
Was man aber auch erwähnen muss, dass sich der mit dem deutschen Krimipreis prämierte Roman von Franz Dobler, „Ein Bulle im Zug“, wiederum so anders las, dass sich einige Kritiker gar nicht sicher waren: Ist das überhaupt einer?
Zahl der Krimiautoren wächst
Oben auf der Empore im Literaturhaus sagt Bernhard Jaumann, der den Preis auch schon erhalten hat, er sei ganz froh, dass er nicht noch mal anfangen müsse. So ganz ohne eingeschworene Leser, die schon auf den nächsten Roman warten. Seine letzten Bücher erschienen in einer Auflage von etwa acht- bis zehntausend. Gebunden. Genau wisse er das nicht, nur, dass er ganz zufrieden ist. „Für junge Autoren aber ist es schwierig. Es gibt ja immer mehr.“ Was sich auch schon beim jährlichen Branchentreff, der Criminale, zeigt: Als er zum ersten Mal dabei war, 2000 in München, da waren es schon über 100 Autoren. Letztes Jahr in Nürnberg etwa dreimal so viele.
Und damit zurück zu den Fragen. Ist das denn alles noch normal? Diese Flut von Romanen, Stangen- und Qualitätsware, die ganzen Festivals, dieser ganze Krimiwahn eben? Schreibt demnächst auch noch Günter Grass Krimis, vielleicht unter dem Titel „Die Aalaffäre“, nun, da doch plötzlich immer mehr renommierte Autoren ihre Lust an Mord und Totschlag entdecken, das Genre weg ist vom Katzentisch? Ist also kein Ende des Booms in Sicht?
Bernhard Jaumann sagt, vor zehn Jahren hätte er noch anders geantwortet. Nämlich etwa so: „Irgendwann muss ja einmal ein Sättigungsgrad erreicht sein. Das wäre nur logisch.“ Aber wann ist der Leser eigentlich mal satt, wenn nicht nach einer solchen Völlerei? Neben Bernhard Jaumann sitzt am Tisch auf der Empore übrigens Michaela Pelz, Chefredakteurin von Krimi-Forum.de, und die nickt und lacht. Stimmt. Hätte sie so vor Jahren auch so gesagt. „Und jetzt wird ja auch noch alles verfilmt, was bei drei nicht auf dem Baum ist.“
Nein, Sattsein sieht anders aus. Auch wenn die Branche vermeldet, 2014 sei der Umsatzanteil der Krimis am Gesamtmarkt leicht zurückgegangen, von 9,7 Prozent im Jahr 2013 auf 9,2. Auf den Büchertischen in den Buchhandlungen merkt man nichts. Da stapelt sich das Futter.
Warum also der Hunger? Jaumann hat einen schönen Vergleich. Krimilesen sei ein bisschen wie Achterbahnfahren. Eine vorübergehende Verunsicherung. Ein Thrill-Effekt. „Dem setzt man sich aus, aber nur im Bewusstsein, dass die Fahrt auch wieder aufhört.“ Gefangen in der Achterbahn, das wäre ja wirklich Horror. Irrer Gedanke. Wer zuletzt auf dem Oktoberfest war, weiß, den Achterbahnen geht es auch nicht schlecht.
Ende des Krimi-Booms nicht in Sicht
Der Fall, er bleibt dennoch merkwürdig. Werden nun so viel Krimis gelesen, weil ja sonst im gähnenden deutschen Alltag nichts Aufregendes passiert? Und als Nachschlag sonntags der Tatort? Den Jaumann übrigens auch ab und an schaut, und zwar am liebsten den aus München. Oder ist es genau andersherum? So, wie der Krimi-Experte Tobias Gohlis mutmaßt: Dass nämlich die weltweiten Bedrohungszenarien den Leser so verschrecken, dass er mit dem Krimilesen prophylaktisch schon mal die Panikmuskulatur trainiert. Und sich freut, wenn zumindest da die Bösen ihr gerechtes Ende finden.
Was sicher ist in diesem Fall: Er lässt sich nicht einfach lösen. Man wird ihn weiterverfolgen. Und derweil weiterlesen. Den Roman von Jaumann zum Beispiel, über den es auch viel zu reden gäbe: Es geht um Gräueltaten von vor hundert Jahren, verübt von der deutschen Kolonialmacht am Stamm der Hereros.
Bernhard Jaumann sagt noch den schönen Satz: In Krimis gehe es ja immer um das Ungeheuerliche. Das mache sie so interessant. Denn was ist das Leben, wenn nicht ganz und gar ungeheuerlich?
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