Motorboot tötet junges Paar im Gardasee: Auf der Spur des Verbrechens
Salò wollte feiern an jenem Samstag im Juni. Stattdessen beweint die Hafenstadt ein junges Pärchen, totgefahren vom Motorboot zweier Deutscher. Wie kam das?
Der 19. Juni hätte ein Tag für die Chroniken von Salò werden sollen. Ein sonniger Samstag, über 30 Grad, die Bucht vor dem Städtchen am Westufer des Gardasees ist voll mit tausenden Menschen, Italienern, Deutschen, der Alkohol fließt, auch draußen auf den Booten. Über die Uferpromenade rasen mittags die Klassiker der italienischen Automobilgeschichte: Lancia, Alfa Romeo, Ferrari. Zum ersten Mal ist die Mille Miglia zu Gast in Salò, ein prestigeträchtiges Oldtimer-Rennen, 375 Autos, und dann auch noch zur Schlussetappe.
Der Münchner Manager Patrick K., 52, und ein Freund wollen sich das Spektakel nicht entgehen lassen. Die beiden sind absolute Ortskenner, kommen seit Jahren an den liebsten See der Deutschen. Für die Mille Miglia buchen sie sich für ein Wochenende im Hotel Duomo ein, einem Vier-Sterne-Hotel direkt an der Promenade. Im Rennpublikum befindet sich zur selben Zeit auch ein italienisches Pärchen mit seinen Freunden. Ein 37-jähriger Klempner aus Salò, eine 25-jährige Studentin aus dem Nachbardorf Toscolano, eine frische, unschuldige Liebe. Am Ende dieses feierlichen Tages sind die beiden tot.
Motorboot rammt den kleinen Holzkahn auf dem Gardasee
Nach allem, was bisher bekannt ist, wurden sie auf einem Holzkahn vom leistungsstarken Motorboot der zwei Deutschen gerammt. K., der mutmaßliche Fahrer, sitzt in italienischer Untersuchungshaft, muss sich auf eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung und unterlassener Hilfeleistung vorbereiten.
Salò wollte nur feiern. Jetzt trauert es. Wie konnte es dazu kommen?
Eine dreitägige Spurensuche am Gardasee, in den Gassen eines erschütterten wie bezaubernden Städtchens, führt zu Augenzeugen dieses verhängnisvollen Tages, zu den aufgewühlten Menschen von Salò, zu einem Opferanwalt, der jetzt eine Gesetzesänderung fordert. Und an den Schreibtisch einer Frau im vierten Stock einer italienischen Behörde. Einer Frau, die es möglich macht, detailliert zu rekonstruieren, was am 19. Juni wirklich geschah.
Mitten auf der Uferpromenade von Salò die Bar Italia. Der Name des Ladens ist hier ein Versprechen: Es läuft der Sehnsuchtssong „Volare“, der Aperol Spritz balanciert perfekt zwischen Frische, Orange und Bitterkeit. Besitzer Andrea Maggioni – blaues, hochgekrempeltes Hemd, polierte Glatze – schwebt zwischen den Tischen, ein „Buongiorno signori“ hier, ein Schluck Weißwein mit Stammgästen da. Die Bestellungen der deutschen Gruppe am Nebentisch kennt er im Voraus: ein Café doppio, ein Mineralwasser, ein Bitter. „Morgen wieder Boot?“, fragt er sie – auf Italienisch.
Der Barbesitzer kann sich noch gut an den Tag am Gardasee erinnern
Maggioni kann sich noch genau an den Tag des Oldtimerspektakels Mille Miglia erinnern: Seine Bar ist restlos ausgebucht. Das Rennen findet direkt vor der Haustür statt. Er verkauft Austern in Massen und 15, 16 Flaschen Champagner – am späten Nachmittag eine Moët & Chandon Ice Impérial für 100 Euro an zwei Deutsche. Es sind K. und sein Begleiter. Sie seien schon angetrunken gewesen, behauptet Maggioni. Die Zeitung La Repubblica berichtet unter Berufung auf Augenzeugen, die beiden hätten schon zuvor Bier getrunken. Jetzt nehmen sie den Moët und steigen auf das luxuriöse Motorboot von K.s Freund, eine Riva Aquarama, 300 PS. Dann schippern sie raus in die Bucht. Eher zufällig zückt Maggioni sein Handy und knipst ein Foto der Mittfünfziger, wie sie sich auf dem See den Champagner einschenken. Er denkt sich nicht viel dabei. Später wird das Bild in der Bild landen. Und in vielen italienischen Zeitungen.
Auch ihren weiteren Abend gestalten die Touristen edel. Gegen 22 Uhr legen sie am Il Sogno an, einem Hotelrestaurant, das auf Stelzen in den See ragt, etwas südlich der Bucht von Salò, in San Felice del Benaco. Es ist eines dieser Etablissements, in denen es Prosecco aufs Haus gibt, der Kellner schon mittags nach der Hummerkarte fragt und der Blick umwerfender kaum sein könnte. K. und sein Freund bestellen die Fischplatte und je ein Glas Weißwein. So steht es auf dem Beleg, den die Staatsanwaltschaft später einkassiert. Augenzeugen werden auch von beträchtlichen Mengen Wodka berichten.
Raimondo Dal Dosso, der Anwalt der Familie des männlichen Opfers, erzählt bei einem Treffen: „Die Bedienung dort sagte ihnen: ‚Nehmt das Taxi, nicht das Boot.‘“ Sie nehmen die Aquarama und rasen zurück über die Bucht.
Zur gleichen Zeit verbringt das italienische Pärchen einen romantischen Abend auf dem kleinen Holzboot des Klempners. Er fährt oft raus damit, wohnt in einem Eckhaus direkt an der Promenade von Salò, keine 200 Meter entfernt vom Hotel der Deutschen. Das Paar kennt sich erst seit ein paar Monaten. „Ganz normale Leute, wie du und ich“, sagt die Kellnerin eines Lokals in Portese, einem schläfrigen Hafenort in der Bucht. Selbst bei aufziehendem Abendgewitter sieht der See von hier aus friedlich aus. Die Lichter am gegenüberliegenden Ufer funkeln, in Garda, in Torri del Benaco. Die Brandung rauscht im Drei-Sekunden-Takt gegen den Kieselstrand, sanft, hypnotisierend.
Das Motorboot war zu schnell auf dem Gardasee unterwegs
Hier, an diesem traumhaften Ort, findet das Leben der zwei Verliebten ein jähes Ende. Videos aus der Überwachungskamera einer Villa am Ufer halten den tragischen Moment in krisseligen Bildern fest. 23.24 Uhr, mit hoher Geschwindigkeit brettert die Riva Aquarama übers Wasser. Die blendenden Rangierscheinwerfer sind verbotenerweise an. Der Holzkahn, spärlich, aber vorschriftsmäßig beleuchtet, lässt sich nur erahnen. Dann hebt das Motorboot der Deutschen mit der Spitze leicht ab, fährt ungebremst weiter, mit 20 Knoten pro Stunde, wie die Küstenwache später rekonstruieren wird. Erlaubt sind in der Nacht fünf Knoten, etwas über neun Kilometer pro Stunde.
In das Boot der Touristen läuft etwas Wasser, einer der beiden hat sich vom Aufschlag geprellt. Ohne nachzusehen, fahren sie zurück nach Salò, wo ein weiteres Video zeigt, wie K. beim Anlegen taumelt und ins Wasser stürzt. In der Bar des Hotel Commercio in der Innenstadt treffen sie sich noch mit anderen Deutschen. Gut zwei Stunden nach dem Unfall muss sich K. übergeben, er blutet aus der Nase. Von einem herbeigerufenen Krankenwagen lässt er sich nicht mitnehmen. Stattdessen geht er mit seinem Freund zurück ins Hotel.
Am nächsten Morgen, gegen fünf Uhr, entdeckt ein Fischer bei Portese das zerstörte Holzboot. Darin: der 37-Jährige mit aufgerissener Magendecke. Er war sofort tot. Seine Freundin wurde aus dem Boot geschleudert. Sie wird Stunden später in 90 Metern Tiefe gefunden, mit Brüchen und tiefen Schnitten an den Beinen. Wären die Deutschen umgekehrt, ihr Leben hätte vielleicht gerettet werden können.
Nach dem grausigen Fund sucht die Polizei am Ufer nach Booten mit Unfallspuren – und findet die Riva Aquarama. Vorne links hat sie eine Schramme, darin Holzsplitter des anderen Bootes. Am Vormittag nehmen die Carabinieri die beiden Deutschen in ihrem Hotel fest.
Der Brief der zwei Deutschen an die Opferfamilie ist maximal unpersönlich
Sie dachten, auf ein Stück Holz oder Ähnliches gestoßen zu sein, sagen sie aus. K. gibt zu, zum Zeitpunkt des Aufpralls gefahren zu sein. Ein Alkoholtest bei ihm ergibt nach Angaben der Staatsanwaltschaft 0,3 Promille – 13 Stunden nach dem Unfall. Sein Begleiter verweigert die Blutentnahme, was nach italienischem Gesetz erlaubt ist. Auch, dass die beiden anschließend wieder zurück in die bayerische Heimat fahren dürfen.
„Das italienische Gesetz. Es ist nicht gerecht“, sagt Opferanwalt Dal Dosso dazu. „Sie haben seit Nachmittag getrunken.“ Es ist der vergangene Dienstagmorgen, mit verschränkten Armen geht der erfahrene Jurist die Promenade von Salò entlang. „Ein sportlicher, generöser Typ“ sei der Sohn der Familie gewesen. „Die Mutter hat es schon etwas besser verarbeitet als der Vater und die Schwester.“ Er zeigt einen Brief, den die zwei Deutschen den Hinterbliebenen geschickt haben, „wobei Brief dafür eine lächerliche Bezeichnung ist“, sagt er.
Es ist vielmehr eine PDF-Datei, verschickt per E-Mail, ohne die Namen der Opfer zu erwähnen, ohne auch nur selbst zu unterschreiben, stattdessen zwei Namenskürzel und Sätze wie: „Wir können nur noch schlafen und uns morgens im Spiegel anschauen, weil wir den Unfall als solches nicht wahrgenommen haben.“ Oder: „Ein solches Ereignis bringt über alle Beteiligten unsägliches Leid, uns und unsere Familien eingeschlossen.“ K.s italienischer Anwalt lehnt ein Interview ab.
Man merkt den Menschen von Salò ihre Aufgewühltheit, ihre Wut an. „Was soll man sagen? Es ist schlimm. Die beiden sind tot“, sagt der Rezeptionist des Hotels Duomo, der sich an die Deutschen erinnert. „Die beiden haben unsere Regeln nicht respektiert. Und jetzt sind zwei junge Menschen nicht mehr da“, sagt die Kellnerin in Portese.
Sauer auf die Deutschen als solche sind sie am Gardasee nicht
In einer etwas abgenutzten Espresso-Bar im Stadtkern, wo sich Barmann Bruno als großer Fan der deutschen Elektroband Kraftklub entpuppt, lehnt der 22-jährige Sebastian Daniele über seinem Cuba Libre. Untertags fährt er Urlaubsgäste mit seinem Boot über den See. Auch er kannte die beiden Getöteten vom Sehen. „Wenn ich merke, ich treffe etwas und das Boot hebt ab, dann muss ich stehen bleiben.“
Aber generell sauer auf die Tedeschi, die Deutschen? Nein, nein. Dafür seien sie als Geld- und Arbeitgeber viel zu wichtig.
Bootsfahrer K. ist inzwischen wieder in Italien. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland stellte die leitende Staatsanwältin der Provinzhauptstadt Brescia einen europäischen Haftbefehl wegen Fluchtgefahr aus. Das Oberlandesgericht München bestätigte ein Auslieferungsersuchen. K. kommt dem zuvor: Am frühen Morgen des 5. Juli, knapp zwei Wochen nach dem Unfall, steigt er in München ins Auto und fährt Richtung Süden. So hat er es mit seinem italienischen Anwalt abgesprochen, der ihn – in Begleitung der Polizei – am Brennerpass abholt und nach Brescia bringt.
Doch die Mühlen der italienischen Behörden mahlen langsam. Fragt man in der Polizeistation von Salò nach dem Unfall, verweisen sie zögerlich und unsicher gestikulierend auf die Kolleginnen und Kollegen in Brescia, genauer auf Colonello Francesco Tocci, den Polizeichef. Also, Weiterfahrt ins eine halbe Stunde entfernte Brescia, nächste Sackgasse. Ohne Termin kein Gespräch – und Tocci sei ohnehin außer Haus. Die zuständige Staatsanwaltschaft reagiert weder auf Anrufe noch auf Mails. Sie sitzt im Justizpalast, einem terrakottafarbenen Brachial-Bau. 15.15 Uhr am Eingang, der Wachmann muss lachen: „Jetzt ist natürlich keiner mehr da. Versuchen Sie es morgen Früh noch mal.“
K. ist nach Modena in häuslichen Arrest verlegt
Und dann, tatsächlich, am nächsten Morgen schickt einen der Mann am Schalter nach drei, vier hektischen Telefonaten zu Aufzug elf, in den vierten Stock, durch ein babyblaues Ganggewirr, an dessen Ende die leitende Staatsanwältin in einem geräumigen Büro empfängt und an ihrer E-Zigarette zieht.
Fast eine Stunde lang breitet sie Details zum Fall aus. Nur ihr Name solle bitte nicht in der Presse stehen, Anweisung von oben. K. sei verlegt worden, von der Haftanstalt Neri Fischione, einem Gefängnis nahe der Altstadt mit Gemäuern von 1900, in eine Wohnung in Modena – häuslicher Arrest. „Ich hoffe, dass wir im Oktober mit dem Prozess starten können“, sagt die Staatsanwältin. Für fahrlässige Tötung und unterlassene Hilfeleistung in zwei Fällen sieht das Strafgesetzbuch ein bis zehn Jahre Haft vor.
Auch das hat für großen Aufruhr gesorgt. Der Bürgermeister von Salò hat die Höchstgeschwindigkeit auf dem See bei Nacht von fünf auf drei Knoten heruntergesetzt. Doch hätte sich derselbe Unfall auf der Straße ereignet, mit Alkohol und überhöhter Geschwindigkeit, die Strafe könnte um ein Vielfaches höher sein. K. hätte nicht nach Deutschland zurückfahren, sein Begleiter sich nicht einem Alkoholtest entziehen dürfen. In einer Petition setzen sich mehr als 100.000 Menschen dafür ein, dass die Fälle auf dem Wasser denen auf dem Asphalt nun gleichgestellt werden. Ein ähnliches Gesetzesvorhaben ist 2019 im römischen Senat gescheitert. „Nun will das Parlament in Rom diesen Paragrafen einführen. Und das ist gut so“, sagt Anwalt Dal Dosso.
Die Politik wird durch einen zweiten Unfall weiter unter Druck gesetzt. Knapp eine Woche nach dem Schicksalstag in Salò stirbt ein 22-jähriger Italiener auf dem Comer See. Er ist von einem sieben Meter langen Schnellboot überfahren worden. Auf dem Verursacherboot: elf junge belgische Touristen.
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