Zweiter Verdächtige nach Fund von verwahrloster Familie festgenommen
Ein Mann bittet um Hilfe: Er habe neun Jahre in einem Keller gelebt. Die Polizei entdeckt eine Gruppe Verwahrloster. Ein Verdächtiger ist in Haft, ein zweiter wurde festgenommen.
Viele Niederländer können es nicht fassen, sind schockiert: In Ruinerwold, einem Dorf in der Provinz Drenthe, sollen ein Vater und seine sechs mittlerweile erwachsenen Kinder neun Jahre lang völlig isoliert in einem Kämmerchen auf einem abgelegenen Bauernhof gehaust haben. Auch am Mittwoch ist noch vieles völlig unklar, die Staatsanwaltschaft jedoch schließt nicht aus, dass die Familie gegen ihren Willen dort festgehalten wurde.
Mann hält Familie gegen ihren Willen jahrelang in Keller fest
Der Mieter des Bauernhofes, ein 58-jähriger Österreicher, wurde festgenommen. Er werde der "Freiheitsberaubung" verdächtigt. Er sitzt in Untersuchungshaft und soll an diesem Donnerstag dem Haftrichter vorgeführt werden, teilte die Staatsanwaltschaft am Mittwoch mit. "Er wünscht keinen Kontakt zur österreichischen Botschaft in Den Haag und will keine konsularische Hilfe", erklärte das Außenministerium in Wien. Der österreichischen Nachrichtenagentur APA zufolge ist er ein Wiener, der 2010 von Oberösterreich aus in die Niederlande ausgewandert ist.
Niederländische Medien berichteten, die Familie habe auf das "Ende der Zeiten gewartet". Das soll einer der Söhne zu Besuchern der Dorfkneipe De Kastelein gesagt haben. Bestätigt wurde das bislang nicht. Der verwilderte und verwirrte 25-Jährige hatte am Montag in der Kneipe um Hilfe gebeten. Inzwischen tauchten Berichte auf Facebook, Instagram und Linkedin auf, wo er unter dem Namen Jan nach einer Pause von neun Jahren wieder Fotos und Einträge gepostet haben soll. Ob es sich um den gleichen Mann handelt, weiß die Polizei noch nicht. "Wir überprüfen diese Berichte", sagte ein Sprecher. Die Kinder waren 2010 zwischen neun und 16 Jahre alt und hätten zur Schule gehen müssen. Doch weder sie noch der Vater waren bei den Behörden gemeldet – was erklären könnte, warum offenbar niemand die Kinder vermisste.
Der 58-jährige Österreicher hatte den Hof gemietet, wohnte wahrscheinlich aber nicht dort. Er hat auch einen Schreiner-Betrieb im nahe gelegenen Meppel. Fast täglich, erzählen Nachbarn, war er mit seinem Volvo gekommen und renovierte den Hof. Die Nachbarn hätten den neuen Mieter freundlich begrüßt, erklärten sie im Fernsehen. Als er vor einigen Jahren erstmals auftauchte, hätten sie ihm Blumen und eine Flasche Wein gebracht. "Doch der reagierte total komisch", erinnerte sich John van Dijk. Er sei kurz angebunden gewesen: "Und dann ging das Hoftor auch immer schnell wieder zu." Eine Nachbarin ergänzte: "Wir dachten, dass es irgendetwas mit Drogen war, eine Haschplantage oder so." Bauer van Dijk war nach eigenen Aussagen einmal mit einem Freund auf dem Gelände. "Aber da hingen überall Kameras, und dann sind wir wieder umgekehrt." Ein paar Mal wollte auch die Polizei nach dem Rechten schauen. Doch die Beamten kehrten am verschlossenen Hoftor unverrichteter Dinge wieder um.
Fall aus den Niederlanden erinnert in Österreich an ein anderes Schicksal
In Österreich weckt das Schicksal der isolierten Familie Erinnerungen an den Elektrotechniker Josef Fritzl, der seine Tochter Elisabeth 24 Jahre lang in einem unterirdischen Verlies gefangen hielt und sexuell missbrauchte. 1984 hatte er die damals 18-Jährige in den Keller gelockt, betäubt und gefesselt. Hinter einer Bücherwand in seinem Haus in Amstetten verbargen mehrere Stahltüren den Zugang zum schallisolierten Kellerverlies von 60 Quadratmetern Größe. Fritzl zeugte mit seiner Tochter sieben Kinder, von denen drei bis zum 29. April 2008 dort in Gefangenschaft lebten. Den Nachbarn erzählte Fritzl, seine Tochter sei in eine Sekte eingetreten und habe nacheinander vier Kinder vor seiner Haustüre abgelegt. Diese zog er mit seiner Frau groß. Bei den Behörden hatte er Elisabeth als vermisst gemeldet.
Das Verbrechen kam 2008 ans Licht, als Fritzl mit einem kranken Kind und seiner Tochter ein Krankenhaus aufsuchen musste. Als nach der Identität des Kindes gefragt wurde, bat Elisabeth um Hilfe.
Fritzl wurde am 19. März 2009 von einem Schwurgericht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe und Einweisung in eine Haftanstalt für abnorme Rechtsbrecher verurteilt. Kindesmord durch unterlassene Hilfe, Sklaverei, Inzest und fortgesetzte Vergewaltigung waren die Straftatbestände. Eins der Kinder war unmittelbar nach der Geburt im unterirdischen Verlies an einer Atemwegsinfektion erkrankt und nach nur drei Tagen verstorben.
Nach dem Prozess wurde der Keller des Hauses zubetoniert. 2016 wurde das Haus an einen Gastwirt verkauft. Elisabeth und ihre Kinder bekamen neue Namen und zogen in ein anderes Bundesland. Bisher konnten sie verhindern, in die Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Der inzwischen 84-jährige Fritzl verbüßt seine Strafe im Hochsicherheitsgefängnis in Krems-Stein. Angeblich mache sich bei ihm Altersdemenz bemerkbar.
Ermittlungen in den Niederlanden gehen weiter
In den Niederlanden laufen die Ermittlungen auf Hochtouren. Der Vater und die sechs Kinder sind vorerst in einem Ferienpark untergebracht worden. "Sie werden versorgt", sagte ein Sprecher der Polizei. "Was sie jetzt vor allem brauchen, ist Ruhe."
Eine Spezialeinheit der niederländischen Polizei untersucht derweil erneut den Bauerhof. "Wir erfassen alle Räume digital, so dass wir eine vollständige Übersicht bekommen", teilte die Polizei der Provinz Drenthe am Donnerstag mit.
Am späten Mittwochabend wurden zwei Betriebe durchsucht, die dem Vater der Familie gehören sollen. Ergebnisse der Durchsuchungen wollte die Polizei zunächst nicht mitteilen.
Am Donnerstagnachmittag gaben die Behörden aber bekannt: Der verdächtige Österreicher bleibt vorerst in Haft. Das ordnete der Untersuchungsrichter an. Der Mann wird der "unrechtmäßigen Freiheitsberaubung" verdächtigt, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Am Abend teilte die Polizei mit, dass nun auch der 67 Jahre alte Vater festgenommen worden. (mit dpa)
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