
Wenn 28 Millionen Menschen vom selben Job träumen

Die indische Eisenbahn schreibt zehntausende Stellen aus. Jetzt beginnt das Auswahlverfahren. Doch wie funktioniert das bloß bei so vielen Bewerbern?
Mit umgerechnet 225 Euro im Monat ist das Gehalt nicht gerade fürstlich. Dennoch – Indiens Eisenbahn kann sich vor Bewerbern nicht retten. Mehr als 28 Millionen Inder haben sich auf knapp 90.000 freie Stellen beim größten Arbeitgeber des Landes beworben – das entspricht etwa einem Drittel der deutschen Bevölkerung. Die meisten der ausgeschriebenen Jobs beinhalten wie bereits berichtet einfache Tätigkeiten wie Weichensteller, Träger oder Maschinist. Doch das Auswahlverfahren ist so langwierig wie manche Bewerbung um den Platz an einer Eliteuniversität.
Am 31. März um Mitternacht endete die Bewerbungsfrist. Spätentschlossene hatten bei ihrer Online-Registrierung mit Problemen zu kämpfen, weil die Website in den letzten Stunden unter der Last der Anfragen zusammenbrach. Allein neun Millionen Arbeitsuchende bewarben sich in den letzten fünf Tagen. „Eine ganze Reihe von Bewerbern ist überqualifiziert, und sogar Fachleute mit einem Doktortitel bewerben sich auf technische Stellen“, erklärte das Eisenbahnministerium in Neu-Delhi. Indiens Bahn gehört mit über einer Million Angestellten zu den größten Arbeitgebern der Welt. Der Staatsbetrieb befördert am Tag mehr als 23 Millionen Passagiere.
Staatliche Arbeitsplätze sind in Indien beliebt
Staatliche Arbeitsplätze sind in Indien ausgesprochen beliebt, weil sie ein großes Maß an Sicherheit und oft auch Privilegien bieten. Ein Posten bei der Eisenbahn erscheint daher vielen Indern als Traumjob. Oft wird auch eine Unterkunft für die ganze Familie gestellt.
Aber wer sichtet denn all die Bewerbungen? Dafür muss kein Mitarbeiter herhalten. Jeder, der sich im Internet als Interessent registriert hat und die dort angegebenen Grundanforderungen erfüllt, darf den elektronischen Test am Prüfungstag im Mai schreiben. Die Antworten werden vom Computer ausgewertet. Testzentren gibt es im ganzen Land in 21 Städten.
Geprüft werden mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse, Intelligenz und logisches Denken, aber auch allgemeine Wissensfragen aus Politik und Wirtschaft: etwa nach dem Gewinner des Commonwealth-Schachturniers oder dem Namen des neuesten indischen Wettersatelliten. Die 100 Fragen müssen in 90 Minuten beantwortet werden.
Doch dies ist keinesfalls alles. Die klügsten Bewerber müssen dann zum Fitnesstest bei der Eisenbahndirektion, wo die freie Stelle ist. Dort müssen männliche Bewerber ein 35-Kilo-Gewicht heben und innerhalb von zwei Minuten 100 Meter weit tragen, ohne es abzulegen. Für Frauen sind 20 Kilo vorgeschrieben. Sind beide Tests erfolgreich bestanden, muss der Aspirant noch einmal klar seine Identität nachweisen. Denn es kommt immer wieder vor, dass Bewerber gegen Geld einen klügeren oder fitteren Bekannten statt ihrer selbst ins Rennen schicken. Doch auch ehrliche Bewerber werden immer wieder Opfer von Gaunern und Betrügern. Im Januar nahm die Polizei in Neu-Delhi acht Männer fest, die in einem sonst ungenutzten Zimmer des weitläufigen Eisenbahnministeriums falsche Vorstellungsgespräche geführt und von den Kandidaten allein für angebliche medizinische Tests umgerechnet 300 Euro verlangt hatten.
Die Bewerberflut bei der Bahn sagt viel über den Arbeitsmarkt
Die Bewerberflut bei der Eisenbahn ist ein Zeichen für die Krise am indischen Arbeitsmarkt: Staatliche Stellen wurden in den vergangenen Jahren gekürzt, aber auch die Privatwirtschaft schuf deutlich weniger Jobs. Die IT-Branche etwa, die lange als Motor der Wirtschaftsentwicklung gepriesen wurde, verzeichnete 2017 nur noch 150.000 Neuanstellungen, verglichen mit 300.000 im Jahr zuvor. Indiens Premierminister Narendra Modi hatte vor seiner Wahl 2014 versprochen, tausende neue Stellen für Indiens wachsende Bevölkerung von über 1,2 Milliarden Menschen zu schaffen, doch dies ist nicht geschehen. Automatisierung und Rationalisierung haben auch in Indien Einzug gehalten. Selbst bei der indischen Eisenbahn: Es ist das erste Mal, dass in den vergangenen drei Jahren wieder Stellen ausgeschrieben werden.
Am Ende entscheidet jede Eisenbahndirektion selbst, wen sie einstellen möchte. Und im Herbst können die Glücklichen dann in ihren Traumberuf starten.
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