"Jagdszenen aus Niederbayern" bei den Kammerspielen
Die berühmte Heimat-Tragödie "Jagdszenen aus Niederbayern" in realistisch-vulgärer Inszenierung an den Kammerspielen München. Dort wird der homosexuelle Abram erschossen.
Einen Abend lang nagt Abram an seiner Unterlippe. Er ist in sich gefangen und in sich gehetzt, er ist anders als die anderen, etwas muss aus ihm raus. Manchmal gelingt es dem Burschen, ruhig und gelassen zu bleiben. Doch dann ist immer wieder an raschen Kopfdrehungen und abrupten Körperwendungen, an impulsiven Reaktionen abzulesen, dass Abram getrieben ist – von sich und von den Dörflern hier in (Nieder-)Bayern. Sie jagen ihn.
Rovo ist auch anders als die anderen. Er stottert; er versteht die Dörfler nicht, die ihn – wann immer er etwas sagt – auslachen. Er versteht die Mutter nicht, die den Vater für kriegsgefallen erklären lassen will, damit sie Volker heiraten kann. Volker, der ihn – Rovo – in die Anstalt stecken will. Rovo stottert: „Wie die Leut’ sind!“
"Jagdszenen aus Niederbayern" bei den Münchner Kammerspielen
Abram und Rovo sind Außenseiter hier in diesem Dorf um 1950, in dem schnell einer zum Außenseiter wird, wenn er anders ist als die anderen. Martin Sperr, einst Hausautor an den Münchner Kammerspielen, hat in seine berühmte, 1968 mit ihm als Abram verfilmte Heimat-Tragödie „Jagdszenen aus Niederbayern“ aber noch weitere Außenseiter-Figuren integriert. Sie würden uns auch aktuell angehen in ihrem Fremdsein: eine dreiköpfige Flüchtlingsfamilie.
Doch diese Flüchtlingsfamilie hat jetzt der Regisseur Martin Kusej in seiner Gast-Inszenierung der Sperr’schen „Jagdszenen“ an den Münchner Kammerspielen ebenso eliminiert – wie den allmächt’gen Dorfpfarrer. Letzteres kann man ihm durchgehen lassen, da die Autorität der Geistlichkeit im Sinken begriffen ist; die Kürzung der Flüchtlingsfamilie jedoch kann ihm kaum verziehen werden – falls Sperrs Ausgrenzungsdrama auch heute noch einigermaßen dringlich sein soll hierzulande.
Martin Kusej fokussiert seine Regie auf Abram und Rovo
Triebfedern für Ausgrenzungen gibt es ja weiterhin allerhand. Der homosexuelle Abram aber wird nicht mehr mit dem Gewehr treibgejagt; der zurückgebliebene Rovo nicht mehr in die Anstalt zum Verschwinden gebracht. Das Thema von Sperrs Stück greift im Original auch weiter. Es zielt auf Ausgrenzung überhaupt – und dass der Ausgegrenzte zu der ihn peinigenden Gemeinschaft gehören will. Und dass er bei Erfolg selbst ausgrenzt. – Kusej jedoch fokussiert seine Regie auf Abram und Rovo. Und er macht in seiner Bearbeitung die Jahre um 1950 sogar noch brutaler als Sperr sie einst verdichtete: Abram wird erschossen in der ersten Szene des Abends.
Keine Strafjustiz wie bei Sperr also, sondern voll treffende Lynchjustiz der Dörfler nach Abrams Mord an Tonka. Ein finaler Showdown, vorangestellt. Dann aber spult Kusej die Tragödie und wie es zu ihr kam, nicht von vorne ab. Er rollt sie weiter von hinten auf. Die „Jagdszenen“ im Rückwärtsgang. So steht am Ende seiner Inszenierung dieses furchtbare Eingangsgespräch zwischen Abram und seiner eiskalten Mutter, in der sie erklärt: „Erwürgen hätt’ ich dich sollen!“ Gemeint ist: erwürgen schon als Kind.
"Jagdszenen aus Niederbayern": Hans Kremer als traumatisierter Kriegskrüppel
Seit diesem Satz ist alles aus im Leben von Abram – den Katja Bürkle an den Kammerspielen in einer ganz starken Psychostudie spielt. Überhaupt die Schauspieler des Abends! Wie sie in zäher Denkungsart und harter, knapper Sprache absurde Wortgefechte hervorwürgen. Wie sie in viehischer Schwerfälligkeit ihrem Drang nachkommen. Und wie sie Scheinheiligkeit und Selbstgerechtigkeit dabei verströmen. Das hat Martin Kusej so realistisch-vulgär wie eindrücklich inszeniert. Der Regisseur ist als slowenischer Kärntner quasi eine genuine Idealbesetzung: „Ich komme aus exakt einem solchen Dorf und kenne das alles zu genau.“ Neben Katja Bürkle spielen ihm vor allem Gundi Ellert als Abrams Mutter Barbara sowie Jeff Wilbusch als Rovo die Trümpfe zu. Und Hans Kremer macht aus dem Volker einen traumatisiert-emotionslosen Kriegskrüppel.
Der Abend in hartem Schlaglicht und stilsicherer Nachkriegs-Arbeitskleidung (Heide Kastler) beklemmt. Jede Szene vor den hohen Wänden (Bühne: Annette Murschetz) zeigt neue Tücke. Das ist so. Doch Horvath, Brecht, Fleißer, diese Älteren, haben uns am Ende womöglich mehr noch zu sagen.
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24., 27. Februar, 2., 14., 20. März
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