"Das Schelling-Projekt" von Peter Sloterdijk ist ein erotischer Roman
Peter Sloterdijk entblößt sich in seinem neuen Buch "Das Schelling-Projekt". Dieser erotische Roman ist gar nicht witzig, sondern lässt tief blicken.
Wenn aus Großautoren zusehends alte Männer werden, passiert immer wieder mal Merkwürdiges. Sie meinen, nun doch richtig offen und saftig über Sex schreiben zu müssen. Das ist schon oft ganz schön in die Hose gegangen. Um nur zwei der prominentesten Beispiele zu nennen: der lange großartige Amerikaner Philipp Roth, der in Büchern wie „Das sterbende Tier“ schließlich Alt-Professoren verstärkt mit jungen Studentinnen ins Bett schickte; und der deutsche Großschriftsteller Günter Grass, der gegen Ende seines Lebens noch erotisch dichtete, frei nach dem Motto: mit letzter Tinte.
Ach nein, das war das Israel-Gedicht, eher: Sieh da, er steht noch. Weisheit und – Verzeihung, aber um manches kräftige Worte werden wir hier nicht herumkommen – Geilheit geraten als Paar meist eher tragisch. Oder zumindest unfreiwillig komisch.
Aber bei keinem ist das wohl so schief gegangen wie jetzt bei dem deutschen Großdenker der Gegenwart: Peter Sloterdijk. Ihm gelingt es sogar, sein ganzes Schaffen durch den Sex des Alternden zu beschädigen, obwohl eine gewisse Komik in seinem Fall wohl beabsichtigt ist. Der Philosoph hat nach dem gelungenen „Der Zauberbaum“ 1987 nämlich zum zweiten Mal in sein umfangreiches Werk einen Roman eingeflochten.
Peter Sloterdijk: "Das Schelling-Projekt" behandelt weiblichen Orgasmus
Er heißt „Das Schelling-Projekt“, ist benannt nach dem großem Naturphilosophen des deutschen Idealismus und behandelt: den weiblichen Orgasmus. Drei männliche und zwei weibliche Wissenschaftler debattieren meist im Mail-Verkehr eine Evolutionstheorie der weiblichen Lust. Beginnend in der Frühgeschichte, beim Hominiden-Weibchen, gipfelnd in der Modernen und der These: im Höhepunkt der Frau „öffnet die Natur ihre Augen“.
Das soll bedeuten: Mit Schelling muss man das Ganze der Natur zu verstehen versuchen wie einen Organismus, ein Lebewesen, das sich entwickelt. Im Menschen kommt diese Natur zu sich, weil die Entwicklung des menschlichen Geistes erstmals die Möglichkeit des Bewusstseins und damit der Selbsterkenntnis bietet. Und der Orgasmus der Frau ist eine Art Hochfest dieses selbstständigen Bewusstseins, weil er an sich zu Fortpflanzung ja nicht nötig ist und jenen des Mannes – das wussten schon die alten Griechen – an Intensität bei weitem übersteigt.
Man kann nun über die Breite der die These irgendwie unterfütternden Fundstücke aus der Geistesgeschichte staunen oder auch fragen: Ist das nicht alles höchsttönender Quatsch? Und vielleicht würde für diesmal Sloterdijk ja sogar mitlachen. Aber der schale Beigeschmack schlägt hier durch. Denn: Ist es bei diesem Denker spätestens seit seinem Großwerk „Kritik der zynischen Vernunft“ nicht immer so gewesen? Immer möglichst originell und geradezu formulierungstrunken – aber in der Substanz krude Spekulation in höchsten Tönen? Im Inhalt wie Schelling eben, der den Weg von der Wissenschaft zur Wahrheit als unmöglich ansah und darum zum Spekulativen riet; und in der Form Maß nehmend am philosophisch-literarischen Stilisten Nietzsche.
„Ich übertreibe, also bin ich“: Auf diesen Nenner bringt Sloterdijk sein Prinzip im Roman selbst launig. Denn einer der mailenden Wissenschaftler im Buch heißt eben Sloterdijk, ist 68 Jahre alt, Professor aus Karlsruhe, wie der Autor selbst, er trägt bloß den Vornamen Peer statt Peter. Darin mag ein sympathischer Grundzug des Denkers zur Selbstironie aufscheinen. In seinen veröffentlichten Tagebuchnotizen hatte er sich ja auch schon als „eitlen Esel“ bezeichnet, der immer die kleine Bürste in der Gesäßtasche dabei hat, um sein zottiges Haupthaar zu striegeln. Hier heißt es nun: „Er redete wie ein Besucher aus der Zukunft, der die Insekten der Gegenwart mit einer Handbewegung verscheucht.“ Und es ist wohl irgendwie auch witzig gemeint, dass Sloterdijk das mitunter absurde Treiben im Wissenschaftsbetrieb karikiert, wenn er beschreibt, wie sein Personal mit einem Antrag zur Förderung des Schelling-Projekts bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft scheitert. Aber leider ist das alles gar nicht witzig. Sondern schauderhaft.
"Das Schelling-Projekt" von Peter Sloterdijk: Philosophie als Pornographie des Denkens?
Denn im Kern wirkt es, als hätte der Philosoph womöglich ein ernstes Buch zu dieser These erwogen, es für diesmal aber selbst als zu albern empfunden. Und als nutze er es nun eben dafür, auch mal ein bisschen saftige Erotik zu schreiben. Der Mailverkehr und mit ihm das Projekt kippt jedenfalls zusehends ins Schildern von einstigem und wieder aufflammendem Sex. Von der Tantra-Session bis zur Wissenschaftlerin, die sich gleich von vier osteuropäischen Handwerkern penetrieren lässt, von Selbstbefriedigungs-Reflexionen bis zum endlich aus aller Forscherverklemmtheit befreienden Anal-Petting. Und die Wissenschaftler tragen noch Namen wie Guido Mösenlechzner, Desiree zur Lippe und Agneta Stutensee.
Frau von Lippe fragt noch, weil die Natur da doch ein irrwitziges Spiel ersonnen habe, dass die Frau das menschliche Ei in ihrem Körper austrage und der Mann also immer mit seinem Genital ins Fremde drängen müsse: „Die Erektion, was bedeutet sie, wenn nicht eine kuriose Flucht nach vorn?“ Und man mag fast eine Frage an Peer oder Peter Sloterdijk anfügen: Ist dies nicht auch sein Prinzip? Die Philosophie als Pornographie des Denkens? Immer geile Höhepunkte setzen und dabei der Philosoph ein Gliedvorzeiger als Formulierungsakrobatik?
Aber gemach. Neben hinreichend Hanebüchenem, dass tatsächlich nur als Satire gemeint sein kann („Der Mann ist ein Medium für entladungswillige Geister“), liefert Sloterdijk wie immer auch staunenswerte Sätze. Zum Beispiel zur Zivilisation: „Sämtliche Verbrechen des letzten Jahrhunderts waren bereits im Kunstdünger enthalten. Daß man Getreide von Drogen abhängig macht, das besagt doch alles.“ Oder zur Unfassbarkeit des Alterns: „Von innen weiß die Haut von Falten nichts.“ Dafür kann er sich aber auch nicht verkneifen, seinen wohl zur Homosexualität bekehrten Mösenlechzner über die Bedrohung durch den Islam salbadern zu lassen. Dessen Wahn zeige sich ja schon darin, dass die sexuelle Erfüllung ins Jenseits vertagt werde, durch das Versprechen der 72 jungfräulichen Paradiesmädchen für den Märtyrer.
Dann doch lieber ein Sloterdijk, der sich, wie vor einiger Zeit mit dem Historiker Herfried Münkler, einen der seltenen öffentlichen Dispute unter Denkern lieferte. Über die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin nämlich. Oder war sein Befund, Deutschland sei „der Überrollung preisgegeben“, auch nur eine originelle Pointe, in der er sein Bonmot von Merkels „Lethargokratie“ mit dem wilden Denken über Grenzen als „schmale Membranen“ zum Metapherntanz bringen konnte?
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