Flötenvögel haben in Australien nicht den besten Ruf. Sie attackieren schon mal Radler oder Jogger, wenn diese in der Brutzeit ihrem Nest zu nahe kommen. Und gern stibitzen sie alle möglichen Dinge aus Gärten oder gar Häusern. Wie die Elstern bei uns, mit denen sie zwar nicht direkt verwandt sind, die aber ein ähnliches schwarz-weißes Gefieder haben. Deshalb sprechen manche auch von einer australischen Elster, wenn sie eigentlich den Flötenvogel meinen. Eines Tages findet ein Junge ein solches, gerade erst geschlüpftes Exemplar auf einem Parkplatz in Sydney. Ein Flügel hängt schlaff herab, ohne weitere Hilfe würde das Küken kaum überleben. Noah – so heißt der Junge, der es entdeckt – ruft seine Mutter an. Sie erlaubt, das verletzte Tier nach Hause zu bringen, und verspricht, es gemeinsam mit Noah und seinen beiden Brüdern aufzupäppeln. Damit beginnt eine Geschichte, die das Leben der Familie auf den Kopf stellen wird – und weltweit Millionen Menschen tief bewegt.
Eine Geschichte, die sich in ihrem Anfang täglich hundertfach wiederholt, in Australien und anderswo. Kinder lieben nun mal Tiere, zumal solche, die ihre Fürsorge brauchen. Nicht immer aber reagieren Eltern so offen wie Samantha Bloom, kurz Sam, die Mutter von Noah. Aber Sam ist anders. Weil sie noch schwerer verletzt ist als der Flötenvogel, dem sie spontan Gastrecht gewährt und dem die Familie Bloom den schrägen Namen Penguin, also Pinguin, gibt – des schwarz-weißen Gefieders wegen. Sam hat zu dem Zeitpunkt Horror-Monate hinter sich und – davon geht sie fest aus – ein Horror-Leben vor sich.
Ende 2012, Anfang 2013 macht sie mit ihrer Familie Urlaub. Das heißt mit Ehemann Cameron, ein Fotograf und Surfer, sowie den drei Jungs Reuben, Noah und Oliver. Sie erkunden gemeinsam Europa, Afrika, den Nahen Osten, sie sind an Orten, die heute für Touristen tabu sind. Bei der ersten großen Reise mit den Kindern nach Südostasien wollen die Blooms nicht an schönen Stränden herumhängen, sondern Thailands indigene Bergstämme in der Grenzregion zu Myanmar und Laos aufsuchen und den Alltag der Landbevölkerung kennenlernen.
Auf dem Weg dorthin, bei einem Zwischenstopp, stürzt Sam wegen eines maroden Geländers sechs Meter tief von einer Aussichtsplattform. Sie ist blutüberströmt, aus ihrem Rücken ragt ein knochiger Buckel von der Größe einer männlichen Faust. Sam ist bewusstlos, aber sie lebt. Ihr Mann Cameron kann nicht verhindern, dass die Söhne ihre Mutter so sehen. Sie sind geschockt. Und sicher, dass sie stirbt.
Ihr Lebensmut sinkt von Tag und Tag
Aber Sam überlebt. Es folgen sieben lange und leidvolle Monate im Krankenhaus. Die Diagnose, die sie bald erhält, macht sie todunglücklich. Sam ist querschnittsgelähmt. Kein Trost hilft, auch nicht die Zuneigung ihrer drei Jungs und ihres Mannes. Tapfer durchläuft sie, die viele Jahre als Krankenschwester gearbeitet hat, sämtliche Therapien. Aber ihr Lebensmut sinkt, ihre zuvor scheinbar endlose Energie versiegt zusehens. „Sie wollte, dass niemand sie in diesem Zustand sah“, erinnert sich Cameron, „sie wollte unser Mitleid nicht. Wir konnten nichts tun, als ihr immer wieder zu sagen, wie sehr wir sie liebten, wie sehr wir alle sie brauchten.“
An diesem Punkt kommt Penguin ins Spiel, der verletzte schwarz-weiße Flauschball mit Schnabel. Anfangs muss das neue Familienmitglied alle zwei Stunden gefüttert werden. Sam übernimmt die Regie. Es ist zunächst überhaupt nicht klar, ob Penguin den Sturz aus dem Nest überleben würde, ja, ob der Kleine jemals würde fliegen können. Aber das Vogelweibchen erholt sich.
Und dann geschieht etwas, was die Blooms schon vergessen haben: Man hört Sam wieder lachen. Und schuld daran ist: der komische Vogel vom Parkplatz.
Cameron richtet seine Kamera auf den gefiederten Gast. Seine anrührenden Fotos zeigen Familienleben pur: Penguin und Noah unter der Dusche; Penguin, der mit Reuben zusammen in einem Buch liest; Penguin, der Sam die Nüsse aus dem Müsli klaut oder mit ihr therapeutische Übungen macht; Penguin, der Sam beim Malen unterstützt… Der Vogel entwickelt ein nicht für möglich gehaltenes Einfühlungsvermögen, das Sam neue Kraft gibt in Momenten, in denen sie sich aus dieser Welt wegwünscht. „Dieser kleine Vogel zeigte uns, dass es in der Welt viel mehr Liebe gibt, als wir uns hätten vorstellen können“, beschreibt Cameron diese Erfahrung. Insgesamt macht er zwischen 2013 und 2015 sage und schreibe 14000 Fotos von dem Tier. Auf Wunsch seiner Frau postet er Penguins Abenteuer auf der Internet-Fotoplattform Instagram, wo bald über hunderttausende Nutzer die Bilder abonnieren. Das ist der Moment, als Penguin weltweit berühmt wird.
Der Wahnsinn geht weiter. Inzwischen hat Cameron die rührende Geschichte seiner Familie mithilfe von Bradley Trevor Greive, einem bekannten australischen Autor, aufgeschrieben. Sein Buch mit einer Auswahl der besten Fotos (Penguin Bloom: Der kleine Vogel, der unsere Familie rettete, Knaus, 19,99 Euro) erobert nach und nach die Bestsellerlisten auf mehreren Kontinenten. Ein Teil des Buchhonorars geht übrigens an Wings for Life, eine Stiftung für die Erforschung von Rückenmarks-Verletzungen.
Bald kommt die Geschichte ins Kino - mit Star-Besetzung
Und nun auch noch Hollywood. Vermutlich 2018 kommt Penguin Bloom ins Kino. Die Hauptrolle der Sam soll US-Superstar Naomi Watts spielen. Die Geschichte bewegt immer mehr Menschen.
Nun ist es nicht neu, dass Tiere eine enorme therapeutische Wirkung auf Menschen haben können. Seit Jahren werden Hunde, Katzen, selbst Wellensittiche gezielt in Alten- oder Behindertenheimen eingesetzt. Es gibt Blindenführhunde und Pferde in der Jugendhilfe. Aber ein Flötenvogel, der aussieht wie eine Elster? Kann es wirklich sein, dass ein solches Tier so zutraulich wird und so viel bewirken kann?
„Ja, das kann sogar sehr gut sein“, sagt Tanja Warter. Die Frau aus Salzburg ist Tierärztin und Journalistin und gibt unseren Lesern regelmäßig auf der Seite Geld & Leben Ratschläge zum Umgang mit Haustieren. Bei der Geschichte aus Australien fällt ihr gleich die Geschichte von Rudi ein. Der war eine Rabenkrähe, also auch nicht direkt verwandt mit dem Flötenvogel. Aber beide sind zu ähnlichen Verhaltensmustern fähig. Rudi also fiel kurz nach der Geburt aus dem Nest und musste aufgepäppelt werden – wie Penguin auch. Tierschützer brachten ihn zu der Veterinärin. Was soll man sagen: „Ich habe unglaubliche Dinge mit ihm erlebt.“
Kaum war der Vogel fit, besuchte er immer wieder seine Retterin. „Und immer war dann Action im Haus.“ Keine Sekunde durfte man ihn aus den Augen lassen. Warf er mal das „Kaffeehaferl“ um und Tanja Warter war auf der Suche nach dem Putzlappen, hatte er schon den nächsten Streich in Planung. Einmal radelte sie durch Salzburg – mit Rudi auf der Lenkstange. Ein riesen Hingucker.
Was Tiere wie Penguin oder Rudi auszeichnen, sei eine hohe Intelligenz, vor allem was das Sozialverhalten betrifft, und eine natürliche Neigung, auch die Umgebung von Menschen erkunden zu wollen. Auch wenn man sie, im Gegensatz zu Hunden oder Katzen, nicht domestizieren, also nicht zu Haustieren machen kann. Deshalb glaubt Tanja Warter: „Die Fotos mit Penguin und der Familie Bloom sind authentisch.“
Rudi fand übrigens ein tragisches Ende. Eines Tages landete er mehr tot als lebendig auf dem Fensterbrett. Er hatte einen harten Gegenstand gefressen und sich dabei verletzt. Kurz darauf starb er.
Und eines Tages ist der Vogel plötzlich weg
Wie die Geschichte mit Penguin ausgeht? Die junge Lady – die übrigens überall gnadenlos hinkackt, diese Unart lässt sie sich nicht nehmen – fliegt im Juni 2015 einfach fort. Monatelang sprechen die Blooms jeden Flötenvogel an, der im Garten landet. Vergeblich. Sam Bloom sagt heute, sie würde Penguin, ihre einstige Gefährtin, nicht mehr erkennen, „es sei denn, sie würde singen“.
Dass beide fliegen gelernt haben, Sam und der Flötenvogel, wie in einigen Rezensionen zum Buch geschrieben wurde, ist nur die halbe Wahrheit. Sam Bloom, inzwischen 45 Jahre alt, sitzt noch immer im Rollstuhl. Und sie sieht ihre Lage realistisch: „Gelähmt zu sein, ist ein bisschen, wie wenn Sie aus dem Koma erwachen und plötzlich 120 Jahre alt sind. Ihre Familie und Ihre Freunde erwarten, dass Sie froh sind, noch am Leben zu sein. Aber alles, was Sie tun, läuft sehr langsam und bereitet Ihnen große Schmerzen“, schreibt sie in einem persönlichen Brief anstelle eines Nachworts.
Dass die Medizin noch immer kein Heilverfahren für Rückenmarks-Verletzungen gefunden hat, damit kann und will sie sich nicht abfinden. Sie ist am Meer aufgewachsen, vor ihrem Unfall war der Strand das erweiterte Wohnzimmer. Nun hat sie Kajakfahren gelernt und ist richtig gut darin. Bei den Sommer-Paralympics im vergangenen Jahr in Rio de Janeiro belegt sie den siebten Platz. Sie hat zu einer gewissen Selbstständigkeit zurückgefunden, sodass Cameron, der so alt ist wie sie, wieder als Fotograf arbeiten kann.
Und ja: Zwei neue Flötenvögel leben nun mehr oder weniger mit ihnen zusammen. Die drei Jungs, heute zwischen elf und 14 Jahre alt, haben ihnen die Namen Puffin und Panda gegeben. Sam Bloom sagt, sie rede viel mit den neuen Gästen…