
Der Amoklauf von Erfurt hat alles verändert

Am 26. April 2002 betritt Robert Steinhäuser das Gutenberg-Gymnasium. Er stürmt durch die Schule und tötet 16 Menschen. Der Amoklauf zwingt Schulen und Polizei zum Umdenken.
Die Schmierereien auf der Schülertoilette des Neu-Ulmer Lessing-Gymnasiums reichten, um die Polizei zu alarmieren. „In den nächsten Tagen gibt es einen Amoklauf“, stand auf der Wand einer Toilettenkabine. Keiner wusste, wer es geschrieben hatte, keiner wusste, wie ernst es gemeint war. Schüler und Lehrer waren womöglich in Gefahr. Rektor Martin Bader musste handeln.
Er informierte die Polizei und spannte sein Kollegium ein: Die Lehrer verglichen die Handschriften sämtlicher Schüler mit der Schmiererei. Es vergingen Tage, in denen weder Schüler noch Lehrer wussten, ob es tatsächlich einen Amoklauf geben würde. Erst nach einer Woche voller Angst gab es einen Treffer. Ein 16-Jähriger wurde überführt. Ein Disziplinarausschuss tagte, der Schüler wäre fast von der Schule geflogen, erzählt Bader. Ernst hatte er es nicht gemeint, aber seit jenem Tag vor 15 Jahren kann niemand mehr eine solche Drohung auf die leichte Schulter nehmen.
Am 26. April 2002 betritt Robert Steinhäuser, 19, das Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. Ein halbes Jahr zuvor war er von der Schule geflogen. Jetzt rächt er sich. Als Mitglied im Schützenverein darf er Waffen besitzen. Er schleicht sich ins Gebäude und schlüpft in einen schwarzen Kampfanzug mit Sturmhaube. In den folgenden 20 Minuten richtet Steinhäuser 16 Menschen hin. Er schießt Lehrern auf den Gängen und in den Klassenzimmern in den Kopf, den Rücken oder die Brust. Als er durch eine abgeschlossene Tür feuert, trifft er zwei Schüler tödlich. Auch ein Polizist, der ihn stellen will, stirbt durch Steinhäusers Schüsse. Am Ende, in die Enge eines leeren Klassenzimmers getrieben, verpasst Steinhäuser sich selbst die letzte Kugel.

Bis zu diesem Tag kannten Lehrer und Schüler Amokläufe nur aus Amerika. „Erfurt hat alles verändert“, sagt Gisela Tamm von der Schulleitung des Lessing-Gymnasiums. Die Analyse des Großeinsatzes zeigte, dass vieles falsch gelaufen ist. An der Schule. Bei der Polizei. Bei den Rettungskräften. Wenn man so will, ist das einzig Positive, dass nach dem Massaker von Erfurt – und den folgenden in Emsdetten, Winnenden und Ansbach – Konsequenzen gezogen worden sind.
An vielen Schulen wurden Türschlösser ausgewechselt, Notfallpläne erarbeitet, einfache Orientierungssysteme installiert, verschlüsselte Lautsprecher-Durchsagen verabredet. Der Notfallplan an der Lessing-Schule: Bei Amokalarm müssen Lehrer sofort die Tür des Klassenzimmers abschließen und übers Handy Kontakt zum Sekretariat halten. Die Schüler müssen alle Handys ausschalten, damit das Netz nicht überlastet wird. Außerdem darf niemand vor der Tür oder einem Fenster stehen – in Erfurt starben zwei Schüler, weil Steinhäuser durch eine abgeschlossene Tür gefeuert hatte. Rektor Bader leitet bis heute alle Klassenlisten und Stundenpläne an Polizei und Einsatzkräfte weiter, damit diese im Notfall wissen, wie viele Menschen in Gefahr sind.
Tamm und Bader sitzen im Büro des Rektors, die Mienen so ernst wie das Thema. Ihre Arbeit hat sich in den vergangenen 15 Jahren nachhaltig verändert. „Wir sind sensibilisiert für Einzelgänger“, sagt die Deutsch- und Religionslehrerin. „Wenn wir das Gefühl haben, dass Gefahr droht, schalten wir den Schulpsychologen ein.“ Man merke zum Beispiel in Aufsätzen und Zeichnungen, wenn ein Jugendlicher abdrifte. Meist werden Heranwachsende nur sich selbst gefährlich – Essstörungen oder Selbstmordgedanken kommen immer wieder vor. Das Entscheidende sei, betont Tamm, dass Schüler und Lehrkräfte Vertrauen zueinander hätten: „Die Schule ist ein Lebensraum, wo wir aufeinander achten.“
So sieht das auch Kriminalpsychologe Rudolf Egg. Für ihn war das eine positive Wende nach Steinhäusers Amoklauf: mehr Aufmerksamkeit für die Unsichtbaren. Denn Erfurt oder Winnenden haben gezeigt, dass nicht die Rüpel oder Schläger gefährlich sind. Sondern die Jugendlichen, die übersehen werden. Die eher am Rand der Klassengemeinschaft stehen, womöglich eine Affinität zu Schusswaffen haben, sich bei Ballerspielen am Computer noch weiter in ihre Fantasie hineinsteigern und Zugang zu Waffen haben, erläutert der Psychologe.
Dass diese Unauffälligen nicht übersehen werden dürfen, ist für Egg die entscheidende Lehre. Denn es hat sich gezeigt, dass potenzielle Amokläufer die Tat indirekt, zum Beispiel durch ein gesteigertes Interesse an vergangenen Amokläufen, oder auch ganz direkt mit klaren Drohungen ankündigen, sagt er.
Amokläufe: Warnsignale rechtzeitig beachten
Dieses „Herauströpfeln“, das so- genannte Leaking von Warnsignalen, gilt unter Experten als wichtigstes Alarmsignal. Auch bei Robert Steinhäuser gab es solche Zeichen: „Dich erledige ich“, hatte er während einer Klassenfahrt zu einem Lehrer gesagt und mit einer imaginären Pistole auf ihn gefeuert. Doch damals hat es keinen beunruhigt.
Funktioniert dieses „Frühwarnsystem“ nicht, dann ist die Polizei gefragt. Für normale Streifenpolizisten markiert Erfurt einen gravierenden Einschnitt. Bis dahin galt die Vorschrift, bei Amoksituationen auf das Spezialeinsatzkommando (SEK) zu warten. Am Gutenberg-Gymnasium führte das dazu, dass der Täter im Schulhaus unbehelligt sein Morden fortsetzen konnte. Heute gilt für jeden Beamten: eingreifen statt abwarten. In der Praxis heißt das, jene Streifenbesatzung, die im Fall eines Amokalarms am schnellsten da sein kann, muss versuchen, den Amokläufer zu stoppen. Gesteuert wird der Einsatz von der Zentrale aus, dort sind auch Pläne sämtlicher Schulen elektronisch verfügbar.
„Keiner muss sich in Todesgefahr begeben, aber es wird erwartet, dass man einschreitet“, erklärt Thomas Rieger, Leiter des Präsidialbüros im Polizeipräsidium Schwaben Nord. Im Regelfall warten die Beamten auf eine weitere Streife, weil vier Polizisten für den Einsatz erforderlich sind. „Es gibt einen kurzen taktischen Stopp zur Absprache, Schutzausrüstung anlegen, Maschinenpistole rausholen und dann geht’s los“, sagt Rieger.
Was so lapidar klingt, hat für den einzelnen Beamten massive Folgen. Theoretisch könnte jeden so ein extremer Einsatz treffen. Auch wenn er nicht eigens dafür geschult ist. Es gebe zwar Einsatztrainings in der Ausbildung und jedes Jahr „Amok-trainings“ in leer stehenden Gebäuden, sagt Rieger. Aber er weiß auch, dass der Ernstfall nur unzureichend simuliert werden kann: „Ein Amoklauf ist eine absolute Extremsituation, der Täter nimmt seinen eigenen Tod in Kauf.“
Doch meist kommt es dazu gar nicht. Viel häufiger bleibt es bei Drohungen. Aber selbst wenn ein Schüler nur in einem sozialen Netzwerk über eine Wahnsinnstat fabuliert, greift die Kripo ein. Zum einen, um herauszufinden, wie ernst er es meint, zum anderen, um ihm zu zeigen, dass solche Aktionen nicht unbeobachtet bleiben.
Auch die Zusammenarbeit mit Sanitätern und Notärzten hat sich verändert. In Erfurt durften die Rettungskräfte lange nicht ins Gebäude, weil vermutet wurde, dass ein zweiter Schütze unterwegs ist. Sie kamen erst unter dem Schutz eines SEK hinein. Über diese Strategie gab es Diskussionen. Aber was wäre die Alternative gewesen?
In Bayern ist die Regelung eindeutig: „Gibt es eine unklare Lage, dann hat der bayerische Rettungsdienst dort nichts zu suchen“, erläutert Lothar Ellenrieder, Rettungsdienstleiter beim Roten Kreuz in Augsburg. „Eigensicherung geht vor Fremdrettung.“ Szenen wie in anderen Bundesländern, wo sich Sanitäter und Notärzte hinter Schutzschildern von Polizisten einem Tatort nähern, soll es nicht geben.
Terroristische Anschläge als realistisches Szenario
Seit neben Schul-Amokläufen auch terroristische Anschläge zum realen Szenario geworden sind, hat das bayerische Innenministerium Handlungsempfehlungen formuliert, genannt REBEL (Rettungsdiensteinsätze bei besonderen Einsatzlagen/Terrorlagen). Die Rettungskräfte werden in solchen Fällen nicht mehr zum Tatort gerufen, sondern zu einem Einsatzort in der Nähe, der sicher genug ist und ausreichend Platz bietet, Verletzte zu versorgen. Die Rettungswagen wurden mit medizinischem Material aus dem militärischen Bereich aufgerüstet: Verbandsstoff, der die Blutgerinnung fördert, oder sogenannte Tourniquets, mit denen Gliedmaßen nach Explosionsverletzungen abgebunden werden können.
Auch das Waffenrecht wurde nach Erfurt verschärft. Noch im Jahr des Amoklaufs wurde zum Beispiel eine verpflichtende medizinisch-psychologische Untersuchung für angehende Schützen unter 25 Jahren eingeführt. Die Altersgrenzen für den Kauf und Besitz von Schusswaffen bei Sportschützen und Jägern wurden heraufgesetzt. Behörden können heute einfacher kontrollieren, ob Waffen sicher verwahrt werden.
Dass all diese Maßnahmen nicht immer zum Erfolg führen, zeigt das gravierendste Beispiel eines Amoklaufs in Schwaben. Im Mai 2012 kommt ein 14-jähriger Schüler schwer bewaffnet in die Memminger Lindenschule. Er feuert in der Mensa der Mittelschule einen Schuss ab. Amokalarm wird aus-gelöst, der Täter flieht auf einen nahe gelegenen Sportplatz. Dort schießt er um sich, bis Polizisten ihn Stunden später zur Aufgabe bewegen können. Wie durch ein Wunder wird niemand verletzt. Das Motiv: Liebeskummer. Bis heute findet Rektor Franz Schneider fast schlimmer als die Tat, dass Mitschüler niemanden gewarnt hatten. Denn sie wussten, dass der 14-Jährige Waffen hatte und gedroht haben soll, seine Ex-Freundin umzubringen. Schneider ist enttäuscht. Hätten sich die Schüler ihm anvertraut, wäre es nicht so weit gekommen.
Denn alle Sicherheitskonzepte, psychologischen Forschungsarbeiten und verschärften Gesetze schließen das Risiko nicht zu hundert Prozent aus, dass ein Schüler austickt und sich Waffen besorgt. Das weiß auch die Schulleitung des Neu-Ulmer Lessing-Gymnasiums. „Gott sei Dank denkt man im Alltag nie darüber nach“, sagt Lehrerin Gisela Tamm mit Nachdruck. Ihr Kollege Martin Bader nickt bedächtig und schweigt.
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