An jenem 23. August 2024 hat Issa al H. längst seinen Plan gefasst. Auf dem anstehenden „Festival der Vielfalt“ in Solingen will der Syrer, damals 26, ein Blutbad unter den „Ungläubigen“ anrichten. Die „Kuffar“, so das arabische Wort, sollen sterben, so viele wie möglich. Der abgelehnte Asylbewerber legt bei seinem IS-Kontakt einen Treue-Schwur ab. Für knapp 30 Euro erwirbt er ein Messerset. Mit einer langen Stichwaffe begibt sich der Islamist am Abend auf das Fest zum 650-jährigen Bestehen der Stadt. In der Menge vor einer Seitenbühne am Fronhof nähert er sich von hinten seinen Opfern und lässt die Klinge niedersausen. Immer wieder geht es gegen den Hals von Festbesuchern. Zwei Männer und eine Frau im Alter von 56 bis 67 Jahren sterben, acht weitere Menschen erleiden teils lebensgefährliche Verletzungen. In zwei Fällen verfehlt das Messer die Festival-Gäste, zerfetzt aber ihre Kleidung.
Gegen 21.37 Uhr gellen Hilferufe über das Festgelände. Tags darauf bekennt sich der „Islamische Staat“ zu dem Terroranschlag. Seit der tödlichen Lkw-Attacke durch den tunesischen IS-Terroristen Anis Amri auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 mit elf Toten übernehmen die Dschihadisten zum ersten Mal die Verantwortung für eine solche Tat. Trotz des Niedergangs in Syrien und im Irak sorgt der IS immer wieder für Terrorakte in Deutschland und Westeuropa.
Die Angaben über eine Verfolgung oder Bedrohungslagen in der Heimat von Issa al H. waren kaum nachprüfbar
Von diesem Dienstag an muss sich der inhaftierte Issa al H. im Hochsicherheitstrakt vor dem Düsseldorfer Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts (OLG) verantworten. Es geht unter anderem um dreifachen Mord und zehnfachen versuchten Mord. Über den Messenger-Dienst Telegram soll der Dschihadist vor der Tat ein IS-Mitglied kontaktiert und den Anschlag ausgeheckt haben. Der Spiegel berichtete, dass al H. bereits als Islamist eingereist sei. Hierzulande soll er sich demnach im Zuge des Nahostkonflikts zwischen Israelis und der palästinensischen Hamas weiter radikalisiert haben. Ein Mann, der stets unter dem Radar hiesiger Sicherheitsbehörden agierte.
Seine Befragungen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dokumentieren das häufige Dilemma in solchen Fällen. Die Angaben über eine Verfolgung oder Bedrohungslagen in seiner Heimat waren kaum nachprüfbar. Nach seinem Asylantrag am 27. Januar 2023 erschien al H. um neun Uhr morgens vor einem Mitarbeiter in der Bielefelder BAMF-Außenstelle. Der Kontrolleur arbeitete einen Fragenkatalog mittels Multiple-Choice-Verfahren ab. Viele Felder blieben offen. Einzig der Reiseweg über die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland lieferte aufschlussreiche Informationen. Offenbar erfüllte der Syrer alle Voraussetzungen für einen Abschiebefall nach dem in der Europäischen Union üblichen Dubliner Flüchtlingsabkommen, da er bereits in Bulgarien als Asylbewerber per Fingerabdruck aktenkundig geworden war. Nach zehn Minuten endete die Anhörung.
Unsere Redaktion hat die Asylakte des Angeklagten eingesehen. Die Unterlagen dokumentieren laxe Kontrollen durch Ausländerbehörden. Demnach fielen niemandem die falschen Angaben des Asylbewerbers auf. Die Akte belegt, wie leicht etwa mutmaßliche Terroristen aus dem arabischen Raum die hiesigen Ausländerbehörden täuschen können – und wie dürftig zumindest bislang die Einreisekontrollen ausfielen.
Am 27. Februar 2023 erging der BAMF-Bescheid – das Asylgesuch wurde abgelehnt
Nach der ersten Anhörung wanderte die Akte des Syrers zum Dublin-Ressort im BAMF. Am 23. Februar 2023 wurde al H. erneut vernommen. Das Gespräch dauerte immerhin eine Stunde. Gleich zu Beginn beteuerte der Flüchtling, ein Onkel mütterlicherseits lebe in Deutschland. Im nationalen Visa-Abfragesystem Maris fand sich der Name aber nicht. Auch fiel nicht auf, dass der Befragte in seiner ersten Anhörung angekreuzt hatte, keine Verwandten in Deutschland zu kennen.
Dass er über kein Ausweispapier verfügte, erklärte der Asylsuchende damit, der IS habe in seiner Heimatregion Deir ez-Zor geherrscht. „Die haben nicht erlaubt, dass wir eine ID-Karte erhalten.“ In der weiteren Befragung spielten diese Aussagen keine Rolle, galt Issa al H. doch als Abschiebekandidat via Bulgarien. Da bedurfte es keiner tiefergehenden Sicherheitsüberprüfung.
Zu den Fluchtgründen befragt, behauptete der Asylbewerber, dass ihm in seiner Heimat der Wehrdienst drohe. Zugleich bat er darum, nicht nach Bulgarien abgeschoben zu werden. „Die Behörden dort schicken Menschen wieder nach Syrien zurück“, so sein Argument.

Am 27. Februar 2023 erging der BAMF-Bescheid. Das Asylgesuch wurde abgelehnt, die Ausreise nach Bulgarien angeordnet. Von da an begann die Sechsmonatsfrist, in der die Abschiebung zu erfolgen hat, andernfalls fiele Issa al H. in die Zuständigkeit Deutschlands. Am 21. März erhielt die zuständige Zentrale Ausländerbehörde Bielefeld die Flugdaten für die Rückführung nach Bulgarien. Zum 5. Juni sollte es um 7.20 Uhr mit dem Flieger von Düsseldorf nach Warschau gehen und von da aus weiter nach Sofia.
Seit Wochen durchleuchtet ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss den Abschiebeversuch im Solinger Fall
Als Mitarbeiter der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld in der Juni-Nacht al H. aus seiner Unterkunft abholen wollten, war dieser verschwunden. Kurz darauf tauchte der Gesuchte wieder auf. Die Abschiebung scheiterte. Ein zweiter Versuch unterblieb. Im BAMF spricht man von einem dilettantischen Abschiebeversuch durch die nordrhein-westfälischen Behörden.
Fortan erhielt Issa al H. einen subsidiären Schutzstatus. Er kam in einer Flüchtlingseinrichtung in der Solinger City unter. Noch einmal unterzog sich der Migrant beim BAMF einer Anhörung. „Aber auch hier hatte sich nichts Auffälliges ergeben“, hieß es. Am 23. August 2024 griff al H. der Anklage zufolge zu seinen Messern, verließ das Flüchtlingsheim und schlug zu. Vor seiner Terrorattacke hatte der Syrer geschickt unter dem Radar der Sicherheitsbehörden in Land und Bund agiert. Niemandem fiel auf, dass er sich längst als „Heiliger Krieger“ sah, der die „Kreuzzügler“ bekämpfen wollte.

Seit Wochen durchleuchtet ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Landtag von Nordrhein-Westfalen den Abschiebeversuch im Solinger Fall. Dabei geht es auch um tagelange Kommunikationspannen der Landesregierung nach der Messerattacke. Überdies übten hochkarätige Sachverständige im Untersuchungsausschuss eine vernichtende Kritik zum staatlichen Vorgehen in Dublin-Verfahren. Daniel Thym von der Universität Konstanz und Martin Fleuß, Richter am Bundesverwaltungsgericht, zeigten eklatante Missstände im deutschen und europäischen Asylsystem auf. Fleuß zufolge haben „strukturelle Defizite des deutschen und des europäischen Migrationsrechts den Boden für den Anschlag von Solingen bereitet“. Und sie könnten „jederzeit für die Verübung weiterer Anschläge vergleichbarer Art ausgenutzt werden“.
Experte: Dublin-System „von Designfehlern durchzogen“
Seit Jahren schon gebe es „tiefgreifende strukturelle Verwerfungen“, bestätigte Professor Thym. Dublin könne „nicht funktionieren, weil das System von Designfehlern durchzogen ist“. Die Probleme seien „hausgemacht“. Etwa die komplizierte Struktur in den personell meist unterbesetzten Behörden, die oft nicht wüssten, wer in den Einzelfällen „die letzte Anweisung“ geben dürfe – was zwangsläufig zu einer „Verantwortungsdiffusion“ führe. Oder die Tatsache, dass es viel zu wenig Abschiebehaftplätze gebe, sodass zahlreiche Betroffene schlichtweg verschwunden seien, wenn sie abgeholt werden sollen. Überall sei „Sand im Getriebe, auch in NRW“, monierte der Rechtsprofessor.
Die Überstellungen in das eigentlich für das Asylverfahren zuständige EU-Land sei ein Desaster. Die Rückführungen würden „sehr, sehr häufig scheitern“, so Thym: „2023 und 2024 zusammen lag die Erfolgsquote für Italien nahe null, für Kroatien bei drei und für Bulgarien bei sieben Prozent.“ Dieser Boykott des Dublin-Systems durch die Ersteinreiseländer habe Tradition. Selbst Frankreich hätte weniger als 50 Prozent der Leute zurückgenommen. „Insgesamt überstellte Deutschland in den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres 4900 Personen an andere EU-Länder und übernahm, weil Deutschland zuständig ist, 3900 Menschen von dort.“ So gleiche das „Dublin-System einem Kampf gegen Windmühlen“, führte Thym aus. Morgens rücküberstellte Personen könnten um Mitternacht wieder in Deutschland sein.
Derzeit lebten hierzulande 15.000 Migranten, die bereits via Dublin-Verordnung in ihre Ersteinreiseländer überstellt wurden, aber wieder nach Deutschland zurückgekommen seien. „Selbst bei einer Rückkehr sind Zurückweisungen im Normalfall dann rechtswidrig“, betonte der Jurist. Die Folge: Das Asylverfahren geht von Neuem los. Bei einer Ablehnung müsse die Abschiebung binnen sechs Monaten erfolgen. Wenn das nicht gelinge, sei Deutschland halt auch offiziell zuständig für das oft jahrelang dauernde „eigentliche Asylverfahren“.
Die Opfer und Angehörigen der Toten sind ihrem Anwalt Simon Rampp zufolge „schwer traumatisiert“
Diese Aussagen belegen eklatante Sicherheitslücken, die mutmaßlichen islamistischen Attentätern wie Issa al H. ihre Taten so leicht machen. Die Opfer und Angehörigen der Toten sind ihrem Anwalt Simon Rampp zufolge „schwer traumatisiert“. Er habe allen acht Mandanten geraten, zunächst nicht im Prozess zu erscheinen. „Die Gefahr ist groß, dass bei der Anklageverlesung Emotionen hochkommen, das ist harter Tobak“, sagt der Solinger Strafverteidiger unserer Redaktion. Nur einer der Klienten werde sich dem Ganzen vor Gericht aussetzen.
Das Oberlandesgericht hat bis zum 24. September 22 Verhandlungstage angesetzt. „Aus meiner Sicht ist die Beweislage erdrückend. Die Ermittler haben extrem gute Arbeit geleistet“, sagt Rampp. Zugleich bekundet der Anwalt, dass er sich für die Höchststrafe gegen Issa al H. einsetzen werde, sollten die Strafvorwürfe zutreffen. Dies würde bedeuten: lebenslange Haft nebst Feststellung der besonderen Schwere der Schuld sowie eine anschließende Sicherungsverwahrung. „Wir setzen alles daran, dass der Prozess im Sinne der Opfer zu einer vollständigen Aufklärung führt.“
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