Es war ein milder Abend im August 1986, als die 21-jährige Diane Sindall aus Seacombe, einem Stadtteil unweit von Liverpool, nach ihrer Spätschicht in einem Pub alleine unterwegs war. Ihr Fiat-Van war mit leerem Tank liegengeblieben. Also setzte sie ihren Heimweg zu Fuß fort. Am nächsten Morgen wurde ihre Leiche in einer schmalen Gasse gefunden: schwer misshandelt, sexuell missbraucht, der Körper entstellt. Ins Visier der Ermittler geriet wenige Wochen später Peter Sullivan aufgrund von Zeugenaussagen.
Der damals 30-jährige Hafenarbeiter war wegen kleinerer Delikte polizeibekannt. Unter erheblichem Druck und ohne juristischen Beistand legte er ein Geständnis ab, das er kurz danach widerrief. Dennoch wurde Sullivan 1987 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Dass er weiter auf seiner Unschuld bestand, galt als fehlende Reue – ein Faktor, der eine vorzeitige Entlassung erschwerte.
Die Spuren führen zu einem bislang Unbekannten
Am vergangenen Dienstag kam es nach 38 Jahren nun zu einer aufsehenerregenden Wende. Das Berufungsgericht in London erklärte den damaligen Richterspruch für unrechtmäßig. Durch moderne DNA-Analyseverfahren konnten einst sichergestellte Spuren ausgewertet werden. Sie führten nicht etwa zu Sullivan, sondern zu einem bislang Unbekannten. „Vor dem Hintergrund der neuen Beweislage ist es unmöglich, die Verurteilung des Angeklagten weiterhin als rechtssicher zu bewerten”, sagte Richter Timothy Victor Holroyde. Damit endete der bislang längste bekannte Fall eines Fehlurteils in der britischen Rechtsgeschichte.
Bei der Verkündung, die Sullivan per Videoschalte aus dem Hochsicherheitsgefängnis HMP Wakefield in Nordengland verfolgte, war der 68-Jährige sichtlich bewegt. Er senkte den Blick, hielt sich die Hand vor den Mund und rang mit den Tränen. Im Gerichtssaal regte sich verhaltener Applaus. „Wir haben es geschafft“, sagte Sullivans Schwester Kim Smith unter Tränen. Ihr Bruder konnte noch am Dienstagnachmittag das Gefängnis verlassen, nach genau 38 Jahren, sieben Monaten und 21 Tagen in Haft.
Die Beweise, auf die sich das ursprüngliche Urteil stützte, wirken heute erschreckend dünn. Neben dem fragwürdigen Geständnis war es vor allem die Behauptung, Sullivan habe Bissspuren auf dem Körper der Frau hinterlassen. Spätere Gutachten entlarvten diese Analysen als unzuverlässig. Die Criminal Cases Review Commission, eine unabhängige Behörde im Vereinigten Königreich, die sich mit möglichen Justizirrtümern im Strafrecht befasst, lehnte eine erneute Untersuchung des Falls 2008 jedoch ab. Erst nach abermaliger Antragstellung im Jahr 2021 veranlasste sie die DNA-Untersuchungen.
„Wir haben Peter 38 Jahre lang verloren“, sagt seine Schwester unter Tränen
Nach seiner Freilassung zeigte sich Sullivan gefasst. „Ich bin nicht wütend, nicht verbittert. Ich bin einfach nur froh, dass es endlich vorbei ist“, erklärte er in einer Stellungnahme, die von seinem Anwalt verlesen wurde. Seine Schwester betonte: „Wir haben Peter 38 Jahre lang verloren, und die Familie Sindall hat ihre Tochter verloren. Niemand hat hier gewonnen.“ Die Polizei von Merseyside nahm die Ermittlungen wieder auf. Das neu gesicherte DNA-Profil werde mit Hochdruck untersucht. Bislang konnte allerdings keine Übereinstimmung in der nationalen Datenbank gefunden werden.
Sullivans Schicksal steht für eine Reihe ähnlicher Justizirrtümer in Großbritannien. In jüngerer Vergangenheit sorgte etwa der Fall Andrew Malkinson für Aufsehen: Der Brite saß 17 Jahre lang im Gefängnis wegen einer Vergewaltigung, die er nicht begangen hatte. Erst moderne DNA-Analysen führten 2023 zu seinem Freispruch. Voreilige Ermittlungen, unsaubere Beweise und Geständnisse unter Druck gehören zu den häufigsten Gründen, warum Menschen auf der Insel zu Unrecht verurteilt werden.
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