Wenn der Dalai Lama in diesen Tagen die aus aller Welt herbei pilgernden Besucher empfängt, in seinem Wohnsitz im nordindischen Dharamsala, dann merkt man ihm das Alter schon sehr an. „Seine Heiligkeit“, eingehüllt in rotem Mönchsgewand, ist gebrechlich geworden. Doch sein kindliches Lachen, das fast allen im Gedächtnis bleibt, die ihm begegnet sind, hat sich das spirituelle Oberhaupt der Tibeter beibehalten.
Am Sonntag wird Tenzin Gyatso, wie der Dalai Lama mit bürgerlichem Namen heißt, 90 Jahre alt. Mit diesem Geburtstag rückt zugleich ein hochpolitischer Konflikt in den Vordergrund: die Frage nach seiner Nachfolge. Was klingt wie eine simple Personalentscheidung, ist tatsächlich so viel mehr. Es geht um nicht weniger als den Fortbestand einer über 1000 Jahre alten Kultur, die sich schon jetzt nur mehr im Exil frei entfalten kann.
Die Nachfolge des Dalai Lama, sagt ein Sprecher des Außenministeriums, müsse „von der Zentralregierung genehmigt werden“
„Die Institution des Dalai Lama wird fortbestehen“, hat der geistige Führer der Tibeter am Mittwoch in einer lang erwarteten Videobotschaft verkündet. Die Suche nach seiner Reinkarnation werde „entsprechend der bisherigen Tradition vorgenommen“. Für die meisten Tibeter ist dies ein Grund zur Freude. Doch gleichzeitig, im Luftlinie gut 3600 Kilometer entfernten Peking, meldet sich auch die kommunistische Staatsführung der Volksrepublik China zu Wort. Die Nachfolge des Dalai Lama, sagt ein Sprecher des Außenministeriums, müsse „von der Zentralregierung genehmigt werden“.
Tenzin Gyatso wurde 1935 in einem abgelegenen Dorf im tibetischen Hochland geboren, die Eltern waren einfache Bauern. Im Alter von zwei Jahren wurde der Junge als 14. Dalai Lama „erkannt“, kurz darauf residierte er schon in der Hauptstadt Lhasa. Doch 1950, da war das spirituelle Oberhaupt noch ein Teenager, marschierten die Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee in Tibet ein. Damals unterschrieb der junge Dalai Lama das sogenannte 17-Punkte-Abkommen, in dem China die Souveränität der Region zugesichert wurde – jedoch nur im Austausch für eine weitreichende Autonomie, welche die Tibeter genießen sollten. Doch genau wie der Übergabevertrag der einst britischen Kronkolonie Hongkongs hat Chinas Staatsführung das Autonomie-Versprechen schon bald gebrochen.

1959 zettelte die Bevölkerung vor Ort einen ersten Volksaufstand gegen die als Besatzer wahrgenommenen Soldaten an. Diese schlug den Widerstand blutig nieder. Während jener Tage musste der Dalai Lama aus seiner Heimat fliehen – eben nach Dharamsala, wo er eine Exil-Regierung aufbaute. Bis heute hat „Seine Heiligkeit“ Tibet nicht mehr betreten.
Wie sensibel das Tibet-Thema für die chinesische Staatsführung ist, verdeutlicht das tragische Schicksal des Panchen Lama. Als Gedhun Choekyi Nyima im Frühjahr 1995 als zweitwichtigste Autorität des tibetischen Buddhismus anerkannt wurde, dauerte es nur wenige Tage, bis Sicherheitskräfte den damals Sechsjährigen entführten. Bis heute gibt es weder von ihm noch seinen Eltern unabhängig überprüfbare Lebenszeichen. Ein vergilbtes Foto, das den Jungen mit roten Wangen und Segelohren zeigt, ist das letzte Dokument, das von seiner Existenz zeugt.
Seit der Jahrtausendwende hat die Staatsführung ein flächendeckendes Internatssystem in Tibet aufgebaut
Ob er sich in Hausarrest befindet? Oder gar im Gefängnis? Wer beim Außenministerium in Peking nachfragt, bekommt die immer gleiche Antwort: Bei Gedhun Choekyi Nyima handele es sich um einen „gewöhnlichen chinesischen Staatsbürger“, der in Ruhe leben möchte. Die Behörden würden ihn „vor äußeren Einflüssen schützen“.
Stattdessen hat Peking einen eigenen, linientreuen Panchen Lama installiert, Gyaltshen Norbu. „Ich möchte der Kommunistischen Partei aufrichtig dafür danken, dass sie mir ein Paar klare Augen gegeben hat, sodass ich Recht von Unrecht unterscheiden kann“, sagte Norbu bei einem seiner ersten öffentlichen Auftritte. Und Anfang Juni, als ihn Staatschef Xi Jinping zur privaten Audienz lud, versprach er: „Ich werde die Führung der Kommunistischen Partei Chinas fest unterstützen und die Einheit des Mutterlandes und die nationale Einheit entschlossen schützen.“ Gyaltshen Norbu ist damit die Verkörperung des Religionsverständnisses der KP: Nur wer der Partei und den sozialistischen Werten absolute Treue schwört, wird geduldet.
Seit der Jahrtausendwende hat die Staatsführung ein flächendeckendes Internatssystem in Tibet aufgebaut – offiziell soll es den Familien, die in abgelegenen Dörfern wohnen, zugutekommen. Und auf den ersten Blick scheint auch wenig dagegen zu sprechen, schließlich erhalten die Kinder der Provinz Zugang zu Bildung in modernen Einrichtungen. Doch für Peking ist Bildung gleichzeitig auch der Schlüssel, um die soziale Identität eines Volkes zu formen, das vor allem als Unruhehort betrachtet wird.

Die Volksrepublik müsse die kommenden Generationen bereits im Babyalter erreichen, sagt Staatschef Xi Jinping, „damit das rote Gen in ihr Blut sickert und ihre Herzen durchdringt“. Wie eine Recherche des Wall Street Journal belegt, werden in einigen Regionen bereits Vierjährige von ihren Eltern getrennt – und auch von ihrer Kultur. In Vorschulklassen wird den Jungen und Mädchen von Han-chinesischen Lehrern Dankbarkeit gegenüber der kommunistischen Partei beigebracht. Die Nichtregierungsorganisation Tibet Actions Institute schätzt, dass bis zu drei Viertel der tibetischen Jugend in solchen Einrichtungen unterrichtet werden. „Die chinesischen Behörden nehmen uns unsere Kinder absichtlich weg und durchtrennen ihre Wurzeln. Innerhalb einer Generation könnten unsere Sprache und Kultur verloren gehen“, sagt der tibetische Soziologe Gyal Lo, der einst als Professor an der Südwest-Universität für Nationalitäten in Chengdu unterrichtete und mittlerweile im kanadischen Exil lebt. Er bezeichnet die Einrichtung unmissverständlich als „koloniale Internate“.
Der Dalai Lama selbst ist nicht frei von Fehlern
In der chinesischen Hauptstadt sieht man das wenig überraschend anders. Wer das Tibetologie-Forschungsinsitut an der vierten Ringstraße in Peking besucht, unweit des Olympiastadions, bekommt einen prägenden Eindruck von der offiziellen Geschichtsschreibung der Volksrepublik. „1951 wurde Tibet friedlich befreit“, sagt etwa Wissenschaftler Zhang Yun. „Erst nach der demokratischen Reform 1959 können 100 Prozent der Bevölkerung Menschenrechte genießen.“ Worauf Zhang anspielt: Die Kommunisten seien Heilsbringer gewesen, da sie eine rückständige Kultur, in der Vielehe und Leibeigentum üblich waren, modernisiert hätten. „Es ist das Ziel der Kommunistischen Partei, Glück über das Volk von Tibet und allen Völkern der Welt zu bringen.“

Doch stellt man kritische Nachfragen, erntet man als Besucher nur ausweichende Antworten. Warum es überhaupt staatliche Internate brauche? „Das System ist dazu gedacht, eine ausgeglichene Entwicklung zu schaffen“, sagt Zhang. Wie viele Kinder dort derzeit unterrichtet werden? „Schwer zu sagen, weil nicht alle Schüler auch in den Internaten wohnen.“
Der Dalai Lama selbst ist nicht frei von Fehlern. Vor gut zwei Jahren etwa stand er heftig in der Kritik, als er einen kleinen Jungen auf den Mund küsste und ihm anschließend die Zunge hinstreckte, mit der Bitte, diese zu lutschen. Später ließ er eine Entschuldigung veröffentlichen, unter anderem mit den Worten, der Dalai Lama necke die Menschen, die er trifft, „oft auf unschuldige und spielerische Weise, auch in der Öffentlichkeit und vor Kameras“. Und: „Er bedauert den Vorfall.“
Zugleich hat er sich stets mit friedlichen Mitteln gegen die Positionen Pekings gewehrt. Dafür wurde er 1989 mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Seine politische Haltung hat sich mit den Jahren allerdings geändert: Der Dalai Lama strebt keine Unabhängigkeit Tibets mehr an, sondern lediglich eine spirituelle Autonomie. Die Tibeter sollen einfach ihre Religion und Kultur frei ausüben dürfen.
Der einzige Protest, der den Mönchen innerhalb Chinas bleibt, ist ein stummer
Doch auch davon ist man unter der derzeitigen Minderheitenpolitik von Xi Jinping weit entfernt. Besonders hart werden die Muslime in China auf Linie gebracht, wie sich am Beispiel der Uiguren in Xinjiang zeigt. Hunderttausende Männer wurden dort in politische Umerziehungslager gesteckt, wo sie teils Opfer von körperlicher Gewalt und Zwangsarbeit wurden. Doch auch Christen und Buddhisten stehen unter ständiger Beobachtung des Staates.
„Der Dalai Lama ist nicht nur das spirituelle Oberhaupt des tibetischen Buddhismus, sondern auch das lebende Symbol der tibetischen Identität“, sagt Tencho Gyatso, Präsidentin der International Campaign for Tibet. „Der Anspruch der Kommunistischen Partei Chinas, seine Nachfolge zu kontrollieren, ist eine eklatante Verletzung der Religionsfreiheit.“ Dennoch gibt es wenig Hoffnung, dass Peking in der Nachfolge-Frage einlenken wird. Und so könnte dem tibetischen Buddhismus schon bald eine Zweiteilung mit unvorhersehbaren Folgen drohen: Möglicherweise wird es einen Dalai Lama für die Exil-Tibeter geben und ein weiteres Religionsoberhaupt, das von der kommunistischen Partei legitimiert wird.
Der einzige Protest, der den Mönchen innerhalb Chinas bleibt, ist ein stummer. Regelmäßige Selbstverbrennungen sind ein trauriges, aber gut dokumentierter Teil des tibetischen Alltags.
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