Ein Leben als freier Mann, das male er sich gar nicht mehr erst aus, hatte Joël Le Scouarnec bei einer seiner Befragungen selbst gesagt. Angesichts der Schwere seiner Taten und ihren schrecklichen Folgen für die Opfer sei es wohl richtig, wenn er sehr lange eingesperrt bliebe, so der 74-Jährige. Ähnlich sahen es auch die Richter in Vannes in der Bretagne im bisher größten Kinderschänder-Prozess Frankreichs, der am Mittwoch nach fast dreimonatiger Verhandlung mit dem Urteil endete. Le Scouarnec wurde wegen sexueller Übergriffe und Vergewaltigung zur Höchstrafe von 20 Jahren verurteilt.
Allerdings wird sie nicht ergänzt durch eine Sicherheitsverwahrung, die Staatsanwalt Stéphane Kellenberger gefordert hatte. Er hatte den Angeklagten als „Teufel im Arztkittel“ bezeichnet.
Kinderschänder-Prozess in Frankreich: Der „Teufel im Arztkittel“ kommt lange in Haft
Insgesamt wurden dem ehemaligen Chirurg Vergewaltigungen von und sexuelle Übergriffe auf 299 Patientinnen und Patienten zwischen 1989 und 2014 vorgeworfen. Le Scouarnec beschrieb seine Taten nicht nur detailliert in seinen Tagebüchern, sondern gab sie im Laufe der Verhandlung auch zu, ebenso wie weiter zurückliegende Taten, die verjährt sind.
Vor Gericht trat Le Scouarnec reuevoll auf. Er habe dank des Prozesses „volles Bewusstsein über das Leiden der Opfer meiner Taten“ erlangt. Viele der Betroffenen hielten ihn für unehrlich und verspürten „sehr viel Wut gegen ihn“, sagte die Anwältin Laure Boutron-Marmion. Allerdings habe er manchen durch seine umfassenden Geständnisse die Angst vor der Aussage genommen. „20 Jahre ist wenig angesichts der Zahl der Opfer“, reagierte ihre Anwaltskollegin Francesca Satta sagte nach dem Urteil. „Es wird Zeit, dass die Gesetzestexte sich ändern.“
Der Kinderschänder betatschte seine Opfer, während sie nach der OP noch schliefen
Le Scouarnec verging sich meist an Kindern oder Jugendlichen, das Durchschnittsalter der von ihm Angegriffenen war elf Jahre. Oft befanden sie sich noch unter Betäubung oder schliefen nach einer Operation, wenn er kam, um sie zu betatschen und mit den Fingern zu vergewaltigen. Kaum jemand in den verschiedenen Krankenhäusern überwiegend in Westfrankreich, in denen er arbeitete, schöpfte Verdacht – und wenn, dann hatte dies keine Folgen.
Im Gerichtssaal und den anliegenden Räumlichkeiten, die extra umgebaut worden waren, um Platz für die große Zahl an Prozessteilnehmern zu schaffen, war der Richterspruch erwartet worden. „Ich musste das Urteil hören, um diesem Kapitel endlich ein Ende zu setzen“, sagte Cécile Mahuret. 2017 erfuhr die 36-Jährige bei einer Vorladung in ein Polizei-Kommissariat, dass sie im Alter von sieben Jahren von Le Scouarnec missbraucht worden war. Dieser hatte in seinen Aufzeichnungen nicht nur seine perversen Handlungen beschrieben, sondern auch Namen, Alter und Adressen seiner Opfer notiert. „Es wäre mir lieber gewesen, nie davon zu erfahren“, so Mahuret. Horror-Erinnerungen an den Mann mit dem weißen Kittel, der sich über ihre Schenkel und ihren Intimbereich beugte und sie dort berührte, kamen wieder hoch. Doch endlich verstand sie ihre krankhafte Angst vor körperlicher Nähe und vor medizinischem Personal.
Kinderschänder vor Gericht: „Ich war zu stark von meinen Trieben dominiert“
Le Scouarnec selbst sagte, er sei jahrzehntelang in seinen perversen Fantasien gefangen gewesen. Nichts habe ihn von seinen Taten abhalten können, „ich war zu stark von meinen Trieben dominiert“. Nach der Scheidung von seiner Frau lebte er jahrelang bis zu seiner Festnahme 2017 allein in einem heruntergekommenen Haus.
Viele der Betroffenen erzürnte, dass auch die regionale Ärztekammer als Zivilklägerin auftrat. Dabei war sie untätig geblieben trotz Warnsignalen in Form von einer Beschwerde durch einen Kollegen und die Meldung einer ersten Verurteilung des Chirurgen zu einer Bewährungsstrafe wegen des Besitzes von pädokriminellen Fotos und Videos im Jahr 2005. Der Prozess deckte auch das Versagen der zuständigen Behörden und der Krankenhausleitungen auf. Es war eine sechsjährige Nachbarin, durch die Le Scouarnec aufflog. 2020 wurde er zu 15 Jahren Haft wegen sexueller Gewalt gegen sie und drei weitere Mädchen, darunter zwei seiner Nichten, verurteilt. Staatsanwalt Kellenberger kündigte an, dass es einen weiteren Prozess geben könnte, sollten noch mehr Betroffene identifiziert werden können.
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