In den Straßen von Saint-Quentin sprechen manche von einer regelrechten „Fleisch-Psychose“, andere von „irrationalen Ängsten“. Wie jene Ärztin, die in dem Städtchen 170 Kilometer nordöstlich von Paris in ihrer Mittagspause ihren Hund ausführt. „Die Leute sind in Panik, solange sie nicht wissen, woher das kommt“, sagte sie gegenüber Journalisten. „Erst dachte man an Leitungswasser, nun heißt es, es lag an verunreinigtem Fleisch, manche fragen sich, ob es nicht noch andere Übertragungswege gibt.“ Sie habe das Gefühl, in der Stadt sei weniger los, da sich manche nicht mehr aus dem Haus wagten.
Seit 12. Juni erlitten hier eine Reihe Kinder im Alter zwischen eineinhalb und 13 Jahren gefährliche Lebensmittelvergiftungen, die sich unter anderem in Form von Durchfall bemerkbar machten. Einer Bilanz von Montag zufolge sind insgesamt 19 Fälle bekannt. Sechs Patientinnen und Patienten brauchen noch immer eine Dialyse, zehn konnten das Krankenhaus inzwischen wieder verlassen, werden aber weiterhin medizinisch betreut. Ein Mädchen, die elfjährige Élise, starb in der vergangenen Woche sogar infolge eines akuten Nierenversagens. Der tragische Fall entsetzte viele in ihrem Heimatort, wo eine Spendensammlung für die Hinterbliebenen organisiert wurde. Ein Foto im Internet zeigt Élise strahlend lächelnd in einem Turnkostüm und mit einer Medaille um den Hals. Sie war eine begeisterte Tänzerin und Athletin, die sich in Vereinen engagierte.
Die Vergiftung der Kinder rund um Saint-Quentin wurde durch das Bakterium Escherichia coli hervorgerufen
Nachdem eine Vergiftung durch verschmutztes Leitungswasser ausgeschlossen werden konnte, gilt bakteriell verunreinigtes Fleisch als die wahrscheinlichste Ursache für die Erkrankungen. Vier Metzgereien sowie die Fleisch- und Wurstwarenabteilungen von zwei Supermärkten der Kleinstadt wurden vorsorglich geschlossen und vor Ort jeweils Proben entnommen. Die Ergebnisse sollen bis Ende der Woche bekannt werden. Alle Kundinnen und Kunden, die seit dem 1. Juni in den fraglichen sechs Filialen eingekauft haben, wurden dazu aufgerufen, die Waren wegzuwerfen. Zudem wurden Produktrückrufe veröffentlicht.
„Ab dem Moment, wo die ersten Erkrankungen bekannt waren, wurden Bestellungen storniert“, sagte die Mitarbeiterin eines der betroffenen Supermärkte. „Seither greifen die Leute, wenn überhaupt, zu Tiefkühlprodukten.“ Manche verzichteten ganz auf Fleisch und Wurst, auch wenn die regionale Gesundheitsbehörde darauf hinwies, dass der Konsum von Waren aus anderen Metzgereien unbedenklich sei.
Zumindest ist inzwischen klar, dass die Vergiftung der Kinder jeweils durch das Bakterium Escherichia coli hervorgerufen wurde. Es handle sich also weder um eine Epidemie noch um einen Virus, sagte der französische Gesundheitsminister Yannick Neuder bei einem Besuch vor Ort. Mehr als 30 Ermittler der örtlichen Gesundheitsbehörden würden eingesetzt, um allen Spuren nachzugehen und möglichst rasch Aufschluss zu erhalten, versprach er. Er habe sich auch mit der Familie der verstorbenen Élise unterhalten. „Wir schulden ihr die vollständige Wahrheit, damit so etwas nie wieder passiert.“ Acht der Erkrankten entwickelten das hämolytisch-urämische Syndrom (HUS), das in der Regel bei Kindern infolge einer Infektion des Darms auftritt und zur Bildung von Blutgerinnseln führt. Diese blockieren vor allem Gehirn, Herz und Nieren. Das HUS-Syndrom tritt sehr selten auf, jährlich werden in Frankreich nur 100 bis 165 Fälle gezählt.
Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen unbekannt eingeleitet
Die Betroffenen kennen einander nicht, besuchten nicht dieselbe Schulkantine oder dasselbe Restaurant. Allerdings wohnen alle in Saint-Quentin oder Umgebung. Die Bürgermeisterin der 53.000 Einwohner zählenden Stadt, Frédérique Macarez, rief alle Eltern dazu auf, „extrem wachsam“ zu sein, falls ihr Kind Symptome wie schweren Durchfall entwickelt. Es gelte, Fleisch gut durchzukochen und saubere Küchenutensilien zu verwenden. Die Stadt richtete eine Krisen-Hotline ein. Derweil hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen unbekannt eingeleitet. Es geht um fahrlässige Tötung und Körperverletzung, Gefährdung des Lebens anderer und Täuschung über Waren, die eine Gefahr für Menschenleben darstellen.
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