Alle schrecklichen Erinnerungen aus Kindertagen sind Guillaume wieder ins Bewusstsein gekommen. Wie der Arzt ihn operierte und nach dem Eingriff immer wieder bei ihm am Krankenbett auftauchte, jedes Mal allein. Wie der Arzt den Kittel, der den Jungen bedeckte, hochhob und ihn dann an den intimsten Körperstellen anfasste. Währenddessen lag das Kind wehrlos da. „Ich war verzweifelt, als mich der Doktor noch eine Nacht länger im Krankenhaus behalten wollte“, erzählte der heute erwachsene Guillaume französischen Journalisten. „Aber dass ich sexuell missbraucht, vergewaltigt wurde, konnte ich meinen Eltern nicht sagen.“ Er habe schlichtweg die Worte dafür nicht gefunden.
Der Arzt hielt alles fest in seinen „Tagebüchern des Grauens“
Und so erfuhren Guillaumes Eltern erst von den schrecklichen Taten, als der Name ihres Sohnes in den langen Listen auftauchte, auf die Ermittler beim früheren Chirurgen Joël Le Scouarnec gestoßen waren.
Der 74-Jährige, dem sexuelle Nötigung und Vergewaltigung von 299 minderjährigen Patienten vorgeworfen wird, führte präzise Buch: über seine Opfer und darüber, was er ihnen antat. Am Montag nun hat in Vannes in der Bretagne der Prozess gegen den Arzt begonnen – es ist einer der schwersten Kindesmissbrauchskomplexe der französischen Geschichte. Vier Monate lang soll verhandelt werden.
Das Interesse am Prozess gegen Joël Le Scouarnec, Vater von drei Söhnen, ist groß. Um die mehr als 750 Personen – Zivilkläger und Anwälte, Pressevertreter und Zuschauer – unterzubringen, wurden drei Säle in einer ehemaligen juristischen Fakultät eingerichtet, in die die Verhandlungen per Video übertragen werden. Mehrere Betroffene kritisierten das. „Der Angeklagte wird mit der Gesamtheit der Nebenkläger nicht oder höchstens sporadisch konfrontiert“, sagte Opferanwältin Marie Grimaud. „Er wird die Wut und Emotionen nicht spüren, muss nicht 300 Augenpaare anblicken.“
Und nun hat am ersten Tag des Verfahrens der Angeklagte ein Geständnis abgelegt. „Ich habe abscheuliche Taten begangen“, sagte der 74-Jährige nach Verlesung der Anklageschrift und der Namen aller Opfer vor Gericht im westfranzösischen Vannes. „Mir ist heute klar, dass diese Verletzungen nicht weggewischt werden können und auch nicht reparierbar sind“, sagte der Mediziner. Und: „Ich muss die Verantwortung für meine Taten tragen und die Konsequenzen für die Opfer, die sie für die Dauer ihres Lebens haben werden.“
Zugetragen haben sollen sich die Vergehen an insgesamt 158 Patienten und 141 Patientinnen zwischen 1989 und 2014 in knapp einem Dutzend Krankenhäusern im Westen Frankreichs, in denen der Spezialist für Darm- und Viszeralerkrankungen, die die Bauchorgane betreffen, praktizierte. Weitere Straftaten, die länger zurückliegen, sind verjährt. Le Scouarnec drohen bis zu 20 Jahre Haft. Seine Opfer, Jungen wie Mädchen, sollen zu den jeweiligen Tatzeitpunkten im Schnitt elf Jahre alt gewesen sein. Manche haben keinerlei Erinnerung, weil sie unter Narkose standen, als er sie belästigte, andere verdrängten den Missbrauch.
Im Prozess wird es auch um die Frage gehen, ob die Behörden versagt haben
Der Chirurg galt als distanziert, aber als guter Arzt. In psychiatrischen Gerichtsgutachten wurde er als „perverser Sexualstraftäter“ bezeichnet. Er selbst beschrieb in Verhören seine „Obsession“, durch die er die Kinder nicht mehr als kleine Patienten, sondern als Objekte seiner Lust angesehen habe.
Es waren die Anschuldigungen seines sechsjährigen Nachbarsmädchens, er habe sich ihr unter anderem nackt gezeigt, die den Arzt im Jahr 2017 auffliegen ließen. Der Prozess gegen ihn wurde zweigeteilt. Nach dem ersten im Dezember 2020, bei dem ihm zudem zwei Nichten und eine vierjährige Patientin sexuelle Nötigung und Vergewaltigung vorwarfen, wurde Le Scouarnec zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Im Rahmen der Ermittlungen hatte die Polizei bei der Durchsuchung seines Hauses in Jonzac, gut 80 Kilometer nördlich von Bordeaux, Sexspielzeug, Puppen, die bis zu einem Meter groß waren, und Kinderunterwäsche gefunden – sowie die handgeschriebenen Notizbücher. In seinem Computer hatte er an die 300.000 Fotos und Videos von Kindesmissbrauch gespeichert.
Im aktuellen Prozess wird es auch um die Frage gehen, ob die Behörden versagt haben. Denn nach einer Meldung der US-Sicherheitsbehörde FBI wurde Le Scouarnec bereits 2005 wegen Besitzes von kinderpornografischem Material zu einer mehrmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt – ohne Folgen für seine Arbeit als Kinderchirurg. Auch die Warnungen eines misstrauischen Kollegen an eine Krankenhausleitung und an die regionale Ärztekammer waren ungehört geblieben. (mit dpa)

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