Frau Pohl, Frau Wiedemann, Sie haben gemeinsam ein Buch geschrieben: „Abgetaucht, radikalisiert, verloren? – Die Generation 50plus im Sog der Filterblasen“. Warum sind gerade Menschen in diesem Alter so empfänglich für den Sog?
MIRIJAM WIEDEMANN: Wir haben festgestellt, dass sich gerade in diesem Alter die Menschen noch mal neue Fragen stellen. Dazu gehören Themen wie Gesundheit, die wirtschaftliche Situation im Alter, aber vor allem auch der Bereich digitale Informationsfindung. Häufig ist damit eine fehlende Medienkompetenz verbunden, die einen Radikalisierungsprozess über Verschwörungstheorien und ähnliche Phänomene begünstigen kann.
SARAH POHL: Es gibt einige Themen nach der Lebensmitte, die den Menschen verletzlicher gegenüber bestimmten Filterblasen machen. Sei es, dass man in einer esoterischen Bubble landet, bei den Reichsbürgern oder unter Verschwörungsgläubigen. Wenn man die Reichsbürger- oder Querdenkerszene anschaut, sind das oft Menschen über 50.
Früher hatten Eltern Sorge, dass sich ihre Kinder radikalisieren, heute ist es eher andersherum. Was passiert mit den Betroffenen?
POHL: Lebensumbrüche in diesem Alter sind, wenn die Kinder ausziehen, Scheidungen, Jobverlust, Rente oder gesundheitliche Probleme. Menschen, die etwa gerade ohne Arbeit sind, reagieren gerne auf esoterische Angebote, in denen es heißt, man könne beruflich durchstarten, wenn man Engelsmedium oder Chakra-Masseur wird.
Sie schreiben, dass dubiose Anbieter gezielt die soziale Isolation, finanzielle Ängste, mediale Inkompetenz oder Vertrauensseligkeit älterer Menschen ausnutzen. Wie kann man sich davor schützen?
WIEDEMANN: Wichtig ist, gerade den isolierten Menschen Gemeinschaft und Kontakt zu bieten. Corona hat wie ein Katalysator für das Entstehen von Filterblasen gewirkt. Wir dürfen diese Menschen nicht vereinsamen lassen. Aber auch mediale Aufklärung über die modernen Informationsmöglichkeiten und ihre Fallen ist notwendig.
POHL: Daneben ist für die Betroffenen auch ein wichtiger Punkt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Man sollte sich eingestehen, dass man Bedürftigkeiten hat, wenn es privat oder beruflich nicht läuft. Wer zu so einer Selbstreflexion in der Lage ist, der wird sich auch Hilfe suchen.

Sie sagen, Corona habe dafür gesorgt, dass speziell Menschen aus der Generation der „Babyboomer“ oder „Best Ager“ sich Verschwörungstheorien und zum Teil rechtsextremem Gedankengut zuwandten. Warum ist die Pandemie so entscheidend?
WIEDEMANN: Einerseits gab es in dieser Zeit einen großen Digitalisierungsschub. Negativ war, dass sich viele Informationsplattformen in den digitalen Raum verlagert haben. Und persönlich konnte man sich aufgrund der rigiden Quarantäne-Maßnahmen nicht mehr oder nur eingeschränkt austauschen.
Was kann man als älterer Mensch machen, um aus diesem gefährlichen Sog herauszukommen?
POHL: Es gibt verschiedene Strategien. Solange man noch in einer unentschiedenen Position ist, ist man noch zu reflektieren in der Lage. Ansonsten ist es wichtig, sich nicht nur auf eine Gruppe zu konzentrieren, sondern zu versuchen, auch zum Sport- oder anderen Vereinen, Familie und Freunden Kontakt zu halten. Denn häufig geht es ja um Gemeinschaftssuche. Kontaktabbrüche sind immer risikobehaftet.
Wie bemerke ich überhaupt, dass ich mich in einer von Algorithmen gesteuerten Filterblase bewege?
WIEDEMANN: Häufig haben wir die Rückmeldung, dass das oft über Familienmitglieder geschieht, die nicht in dieser Filterblase stecken. Also beispielsweise: „Papa, du gibst so viel Geld für bestimmte esoterische Produkte aus. Denk mal drüber nach, ob das wirklich Sinn macht oder ob das nicht Scharlatanerie ist.“
POHL: Meistens merkt man auch, dass gute Freundschaften kriseln und andere einem sagen, dass es so nicht weitergehen kann.

Die 50plus-Generation ist mit klassischen, seriösen Medien groß geworden. Die müssten doch eigentlich gut informiert sein?
WIEDEMANN: Es liegt nicht an den Zeitungen oder dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Das Problem sind die anderen Informationskanäle wie Telegram oder TikTok, die auch bei älteren Menschen immer öfter auf dem Handy zu finden sind. Leute, die nicht wissen, was mit KI heute möglich ist oder professionell anmutende Kanäle nicht von seriösen unterscheiden können, geraten dann schnell in die Filterblasen. Denn sie haben kein Korrektiv mehr, mit dem der Realitätsgehalt der Nachrichten kontrolliert werden kann.
Was muss insgesamt passieren, dass diese gefährlichen Filterblasen aufgestochen werden oder gar nicht entstehen?
WIEDEMANN: Wir müssten die Bedürfnisse, die so eine Gruppe vulnerabel machen, besser thematisieren. Hier geht es nicht darum, Sündenböcke zu finden. Stattdessen müssen wir diese Menschen in einer altersgerechten, für alle zugänglichen Form ansprechen und ihnen seriöse Informationskanäle bieten.
POHL: Der erste Punkt ist: Verstehen, statt zu urteilen. Dazu müssen wir erst einmal zuhören. Und wir müssen mehr Begegnungsräume schaffen. Junge Menschen treffen sich in der Schule, je älter wir werden, desto mehr verliert sich das. Denn solche Begegnungen bauen oft auch Ängste ab und wirken gegen Feindbilder.
Zu den Personen
Sarah Pohl leitet die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen des Landes Baden-Württemberg. Mirijam Wiedemann ist Leiterin der Geschäftsstelle für gefährliche religiös-weltanschauliche Angebote am Ministerium für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg.
Habe selten so einen Schwachsinn gelesen.
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