Die Piste ist makellos präpariert, der Schnee glänzt in der Sonne. Oben, auf 2525 Metern Höhe, wo die Tre-Omen-Abfahrt beginnt, hat man auch am späten Vormittag fast das Gefühl, die erste Linie durch den Schnee zu ziehen. Nur vereinzelt wedeln Wintersportler talwärts. An der Berghütte Capanna Confin, dort laufen die Pisten zusammen, folgen einige Erwachsene, erkennbar unsicher auf den Brettern, der Spur ihres Skilehrers. An der Berghütte dudelt „The Code“ des Schweizer Sängers Nemo aus den Lautsprechern, der Gewinnersong des letzten Eurovision Song Contest. Die bereitgestellten Liegestühle werden nach und nach von Gästen in Beschlag genommen.
Überlaufen ist das Skigebiet San Bernardino wirklich nicht, jedenfalls nicht unter der Woche, jedenfalls noch nicht. Obwohl es direkt am südlichen Ende des gleichnamigen Straßentunnels im schweizerischen Graubünden an einer der wichtigsten Verkehrsachsen zwischen Süddeutschland und Italien liegt. Am Bernardino selbst verweilen wenige. Auf dem Parkplatz stehen Autos mit Bündner und Tessiner Kennzeichen, kaum deutsche.
Vom „trostlosesten Skigebiet der Schweiz“ schrieb 2015 eine Boulevardzeitung
Jahrelang gab es tatsächlich wenige Gründe, hier anzuhalten. Seit 2012 standen die Bergbahnen am Bernardino still, der Investitionsbedarf war zu groß geworden. Ein Schicksal, das in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auch andere Skigebiete getroffen hat, die mit der Konkurrenz nicht mithalten konnten, oder die durch eine tiefe Lage angesichts milderer Winter nicht mehr schneesicher genug waren. In San Bernardino verwaisten nach der Schließung der Lifte die Hotels, Menschen zogen fort oder dachten zumindest darüber nach. Vom „trostlosesten Skigebiet der Schweiz“ schrieb 2015 die Boulevardzeitung Blick. Das Dorf San Bernardino drohte zum Lost Place zu verkommen, zu einem verlorenen Ort.
Und heute? Seit der vergangenen Wintersaison laufen die ersten Lifte wieder, ein Schlepplift, ein Zweiersessel, eine Gondelbahn. Vor wenigen Wochen kam der Schlepplift zur Tre-Omen-Abfahrt dazu. Ein weiterer soll folgen, nach und nach dann alle Anlagen erneuert werden. Vor allem Gäste aus der näheren Umgebung machen sich jetzt wieder auf an den Bernardino. Und es sollen mehr werden, viel mehr.
„San Bernardino Swiss Alps“ ist ein touristisches Projekt mit großem Potenzial, davon ist Federico Patti überzeugt. Der Bauingenieur und Betriebschef der Lifte am San Bernardino kommt auf einen Espresso in den frisch renovierten Traditionsgasthof Brocco e Posta, das erste Haus am Platz. „Wir haben das Potenzial gesehen. Die Natur. Der leichte Zugang über die Autobahn. Die verfügbaren Gebäude für Renovierungen“, berichtet Patti, Sohn einer Seilbahnbetreiber-Familie aus dem lombardischen Ponte die Legno. „Die Gondel und die Sesselbahn wurden kurzfristig renoviert, sodass wir damit starten konnten. Sie werden dann später ersetzt. Neue Bahnen brauchen Jahre.“

Auch im Dorf tut sich was. Wohnungen werden gebaut, Hotels saniert, ein Thermalbad ist in Planung, alles ausgelegt auf ganzjährigen Tourismus. „Wir wollen ein Boutique-Resort werden“, sagt Patti. Nicht um die Größe gehe es – da liegt San Bernardino mit seinen 35 Pistenkilometern ohnehin hoffnungslos hinter der Konkurrenz in Laax oder Lenzerheide zurück. Sondern um einen als Gesamtpaket aus einer Hand buchbaren Resort-Urlaub, mit Schneeschuhwanderungen, Wellness oder Schneemobilfahrten. Eine Kombination aus italienischem Stil und Schweizer Qualität, das ist die Idee.
Dem „Immobilienkönig der Südschweiz“ gehört neuerdings halb San Bernardino
Wenn Patti „wir“ sagt, dann meint er damit die Artisa-Gruppe aus Lugano. Genauer: deren Präsidenten Stefano Artioli. Der Tessiner ist mit Immobiliengeschäften reich geworden. Das Kerngeschäft hat er an seinen Sohn übergeben und kümmert sich nun darum, verlassenen Objekten neues Leben einzuhauchen: Das leer stehende Grand Hotel in Locarno hat Artioli gekauft, nun harrt es der Wiedereröffnung. Und eben San Bernardino. Federico Patti ist seine rechte Hand vor Ort.
Dabei geht es nicht nur um die Lifte, vielleicht noch nicht einmal in erster Linie. Artioli, den eidgenössische Medien als „Immobilienkönig der Südschweiz“ bezeichnen, gehört neuerdings halb San Bernardino. Nicht allein das Brocco e Posta. Auch ein in die Jahre gekommener Klotz namens Albarella, der bald als Design-Hotel wiederauferstehen soll, um dann laut Prospekten „als Symbol der Glanzzeit des Skigebiets in den 1970er und 1980er-Jahren“ neue Pracht zu entfalten. Noch allerdings besteht er lediglich aus einer sanierungsbedürftigen Hülle. Außerdem entstehen neue Appartementhäuser, deren Verkauf an den Skiliften und in der Capanna Confin beworben wird. Insgesamt ist über die nächsten Jahre von Investitionen in Höhe von 300 Millionen Franken, das sind 320 Millionen Euro, die Rede.
Und das in Zeiten des Klimawandels? Dass Skigebiete für immer schließen, ist in den letzten Jahren häufiger vorgekommen. In Deutschland zum Beispiel am Jenner bei Berchtesgaden, wo sich der Liftbetreiber jüngst dazu entschlossen hat, die energieintensive Präparierung und Beschneiung der Pisten für Alpinskifahrer einzustellen. Stattdessen wird das Winterangebot auf Schlittenfahrer, Schneeschuhwanderer und Tourengeher ausgerichtet.
Dass ein Skigebiet neu eröffnet oder nach längerer Schließung wieder eröffnet hätte, sei dagegen nicht bekannt, heißt es unisono von den Branchenverbänden in Deutschland und der Schweiz. Die Kollegen beim Fachverband Seilbahnen der Wirtschaftskammer Österreich können auch nur einen einzigen, schon etwas länger zurückliegenden Fall nennen: Die Lifte an der Muttereralm bei Innsbruck wurden 2006 neu in Betrieb genommen, nachdem sie zuvor sechs Jahre lang stillgestanden hatten.
„Wenn man ein Skigebiet nur öffnen kann, wenn genug Schnee gefallen ist, dann ist das brutal gefährlich für den Tourismus“
Federico Patti, verantwortet den Betrieb und die Erneuerung der Liftanlagen
Kann sich angesichts dessen die Investition von Millionenbeträgen in alpines Skifahren überhaupt rechnen? Federico Patti lächelt milde. „Wir denken, dass es möglich ist, das Skigebiet für die nächsten 30 Jahre zu öffnen und zu betreiben“, sagt er. „Sonst würden wir nicht mit diesen großen Investitionen beginnen.“ Der Ort San Bernardino sei mit einer Höhenlage von über 1600 Metern gut aufgestellt, wichtig seien dennoch die anstehenden Investitionen in Beschneiungsanlagen. Da hänge die Schweiz den Kollegen in Italien und Österreich, auch Deutschland, hinterher. Die Eidgenossen hätten Schneekanonen zu lange skeptisch gesehen, das habe sich erst in jüngerer Zeit geändert, meint er.
Die Geräte zur technischen Erzeugung von Schnee sind umstritten, Naturschützer kritisieren ihren hohen Energieverbrauch. Patti aber sagt: „Wenn man ein Skigebiet nur öffnen kann, wenn genug Schnee gefallen ist, dann ist das brutal gefährlich für den Tourismus.“ Wenn es unsicher sei, ob sie überhaupt Skifahren können, würden Urlauber, die langfristig buchen, gar nicht kommen. Auch in diesem Winter sind die Wetterbedingungen erst im Februar gut genug geworden, dass das Skigebiet den vollen Betrieb aufnehmen konnte.
Für die Artisa-Gruppe geht es letztlich um eine Mischkalkulation, wie Jürg Stettler, Professor für Tourismus an der Hochschule Luzern, im Schweizer Sender SRF erläuterte: „Das Skigebiet ist absolut zentral für den Verkauf von Appartements“, so der Wissenschaftler, „das ist gleichzeitig die Krux von dem Projekt. Man muss ins Skigebiet investieren, obwohl es schwer ist, es rentabel zu betreiben – aber man muss es machen, damit man die Immobilien verkaufen kann.“
Dass es sich bei San Bernardino eigentlich um ein Immobilienprojekt handelt mit angeschlossenem Skigebiet – diesen Gedanken weist Federico Patti zurück. Und auch mit einem anderen Schweizer Skiprojekt möchte er San Bernardino nicht so gern verglichen sehen. Im zentralschweizerischen Andermatt hat ein ägyptischer Investor ein Luxusresort mit Skigebiet hochgezogen, das sich an eine betuchte internationale Klientel richtet. Diese ist in San Bernardino, wo das Tagesticket für 49 Franken zu haben ist, nicht die erklärte Zielgruppe. Dort will man Familien ansprechen. Aus dem Tessin, aus Norditalien und der Deutschschweiz. Langfristig auch verstärkt aus Süddeutschland.
Es sind Leute wie Kathrin Koppa und ihre Familie. Mit Mann, Eltern und zwei vierjährigen Zwillingen verbringt die Zürcherin gleich eine ganze Woche in San Bernardino – so wie sie es früher als Kind mit ihren Eltern schon getan hat. „Es ist schön, alles wiederzusehen nach 25 Jahren“, erzählt sie, während die Kinder durch den Frühstücksraum des Brocco e Posta flitzen. „Das Skigebiet ist wunderschön, alles ist klein und überschaubar, die Leute sind freundlich. Wir haben sogar unseren Skilehrer von damals wiedergetroffen!“ Die Schließung des Skigebiets habe sie damals „mega-schade“ gefunden, erinnert sich Kathrin Koppa. Umso schöner sei es jetzt, die Lifte wieder in Betrieb zu sehen.
Es gibt einen detaillierten Drei-Stufen-Plan, wie San Bernardino innerhalb der nächsten zehn Jahre auf Vordermann gebracht werden soll
Es gibt einen detaillierten Drei-Stufen-Plan, der darlegt, wie San Bernardino innerhalb der nächsten zehn Jahre auf Vordermann gebracht werden soll. Eine Therme gehört dazu, die sei zwingend nötig für das Gesamtpaket, sagt Patti. Oben im Skigebiet besitzt Immobilienkönig Artioli ohnehin alles: Lifte, Hütten, Technik, alles in einer Hand. Auch die Skischule und der Skiverleih an der Talstation werden von der Artisa-Gruppe betrieben.
Einen Skiverleih und eine Skischule gibt es auch im Ortskern. Sie heißen „Marino Sport“ und ihr Besitzer ist kein millionenschwerer Investor, sondern Emilio Toscano, ein Bewohner von San Bernardino. Er hat die Durststrecke miterlebt, als das Skigebiet nicht offen hatte, nur der kleine Dorflift. „Wir haben überlebt“, sagt er rückblickend. „San Bernardino war immer ein Ort, an den Menschen zu Besuch gekommen sind. Aber ohne Bergbahnen und Skigebiete hat man die Masse nicht gehabt.“ Deswegen begrüßt auch er die Millionen-Investitionen der Artisa-Gruppe. Dass der Konzern ebenfalls Skier verleiht und Skikurse anbietet, sei zwar nicht schön. Aber Toscano sieht die Konkurrenz pragmatisch: „Besser wir haben das Skigebiet und zwei Skischulen als kein Skigebiet.“ Von dem Unternehmen erwartet er aber nun die angekündigten Investitionen in die Modernisierung der Lifte.
Die würden auf jeden Fall kommen, verspricht Federico Patti. Zunächst werde der noch fehlende Schlepplift in Betrieb genommen, irgendwann soll eine Gondelbahn bis ganz nach oben an den Start der Pisten führen. In den Gondeln werden dann idealerweise Gäste sitzen, die unten im Ort ein Appartement gemietet oder gleich gekauft haben – das Rundum-Paket eben aus einer Hand. Die Immobilienpreise am Ort, so erwartet es Artisa-Präsident Stefano Artioli, werden bis dahin um 30 Prozent gestiegen sein.
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