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Stimmen hören: Einblicke in ein häufiges Phänomen und den Umgang damit

Psychologie

Wenn Menschen Stimmen hören

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    Dass Menschen Stimmen hören, ist kein seltenes Phänomen. Bei schweren Erkrankungen wie Schizophrenie gehört Stimmenhören oft zu den Symptomen. Doch es gibt auch so genannte gesunde Stimmenhörende. Entscheidend ist oft der Umgang mit den Stimmen und der Leidensdruck.
    Dass Menschen Stimmen hören, ist kein seltenes Phänomen. Bei schweren Erkrankungen wie Schizophrenie gehört Stimmenhören oft zu den Symptomen. Doch es gibt auch so genannte gesunde Stimmenhörende. Entscheidend ist oft der Umgang mit den Stimmen und der Leidensdruck. Foto: Emmi Korhonen, Lehtikuva/dpa (Symbolbild)

    Als Jonas Heintz* das erste Mal Stimmen hört, liegt er in seinem Bett und kann nicht schlafen. Er besucht die 12. Klasse an einem Berliner Gymnasium, gerade ist er von einem Auslandsjahr zurückgekehrt, bald steht das Abitur an. Zukunftssorgen und Stress plagen ihn. Während seiner Zeit im Ausland hat er eine panische Angst davor entwickelt, unter Menschen zu sein. „Die Art von Panik, wo man nicht mal mehr klar denken kann“, sagt Heintz. Er liegt die ganze Nacht wach, wälzt sich von einer Seite zur anderen. Und plötzlich hört er die Stimmen seiner Eltern und Nachbarn von nebenan, durch die Wand. Sie reden über ihn oder besser gesagt: Sie zerreißen sich das Maul. So beschreibt es Heintz. Sie reden darüber, was alles merkwürdig an ihm ist. Dass er schon immer ein merkwürdiges Kind war. Was für ein schlechter Mensch er ist.

    Das erste, was er morgens hörte, waren die Stimmen. Sie begleiten ihn seit acht Jahren

    Die Stimmen werden mehr. Er hört nicht mehr nur seine Eltern und Nachbarn, sondern auch Freunde, Schulkameraden oder Fremde im Bus. Sie beginnen auf seine Gedanken zu reagieren, sich mit ihm zu unterhalten. „Die klangen wie echte Menschen, die ich aus der echten Welt kenne“, sagt er. „Nur dass ich sie nicht mehr über meine Ohren wahrgenommen habe, sondern wie etwas, das zusammen mit mir, neben mir in meinem Gehirn lebt.“ Er beginnt zu denken, er könne telepathieren. Das Erste, was er morgens hörte, waren die Stimmen.

    „Die Stimmen klangen wie echte Menschen, die ich aus der echten Welt kenne. Nur, dass ich sie nicht mehr über meine Ohren wahrgenommen habe, sondern wie etwas, das zusammen mit mir, neben mir in meinem Gehirn lebt.“

    Ein Betroffener

    Auch heute, acht Jahre später, begleiten die Stimmen den 26-Jährigen, wenn auch seltener. Dass Menschen Stimmen hören, ist kein seltenes Phänomen: Vorsichtige Schätzungen auf der Grundlage von epidemiologischen Umfragen gehen davon aus, dass etwa drei Prozent der Weltbevölkerung betroffen sind. Mehr also, als es Menschen mit psychischen Störungen gibt, bei denen das Stimmenhören zu den typischen Symptomen gehört: Schizophrenie, Psychosen, seltener auch Borderline- Persönlichkeitsstörung oder posttraumatische Belastungsstörung. „Es gibt auch die so genannten gesunden Stimmenhörer, die Stimmen hören, obwohl sie gar nicht die Kriterien für irgendeine psychische Erkrankung erfüllen“, sagt Tania Lincoln. Sie leitet den Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Hamburg. „Im Prinzip kann jeder und jede Stimmen hören.“

    Was für Stimmen das sind, was sie sagen, wie oft und in welcher Lautstärke, sei bei jeder Person anders. „Man unterscheidet im Wesentlichen zwischen kommentierenden Stimmen, also ‚Sie verlässt das Haus‘ oder ‚Sie sitzt am Computer‘; kommandierenden Stimmen, die der Person sagen, was sie tun soll oder nicht – und bewertenden Stimmen, wie ‚Du bist hässlich‘ oder ‚Du bist langweilig‘.“ Nicht immer ist das Gesagte negativ, und nicht immer leiden Betroffene unter den Stimmen. Es kann die Stimme der verstorbenen Oma oder des Arbeitgebers sein – oder Unbekannte. Es können mehrere Stimmen sein oder immer die gleiche, durchgehend den ganzen Tag oder wenige Sekunden, schreiend oder flüsternd.

    Stimmen zu hören ist vor allem als ein Symptom der Schizophrenie bekannt

    Stimmen zu hören ist vor allem als ein Symptom der Schizophrenie bekannt, etwa 60 Prozent der Erkrankten berichten davon. Laut Lincoln sind bekannte Risikofaktoren, die das Stimmenhören im Rahmen einer Schizophrenie auslösen können, Kindheitstraumata, insbesondere Gewalttraumata oder sexuelle Traumata. Auch genetische und neurobiologische Risikofaktoren gebe es. Eine komplexe Gemengelage. Wie genau diese Risikofaktoren zum Stimmenhören führen, sei aber noch nicht gänzlich verstanden, so die Expertin. Oft beginne das Stimmenhören in einer Phase hoher Stressbelastung.

    So wie bei Jonas Heintz. Seit einigen Jahren ist er beim Netzwerk Stimmenhören: Ein Berliner Verein, der Selbsthilfegruppen organisiert und Beratung für Betroffene und Angehörige anbietet. Nachdem er 2016 das erste Mal stationär in der Psychiatrie war, ging er zu einem Treffen der Selbsthilfegruppe. Er spürte, wie seine Angst langsam kleiner wurde, wenn er unter Menschen war. Er begann über die Telepathie zu sprechen und lernte, dass es hier, unter Stimmenhörern, keine Rolle spielte, ob man die Stimmen als psychische Erkrankung deutete, als Telepathie oder als die Botschaft des Erzengels Gabriel. Keine Erklärung war richtiger oder falscher als die andere.

    An einem Abend im Oktober schaltet sich Jonas von einem Café aus zur Onlinegruppe des Netzwerks Stimmenhören dazu. Seit einigen Jahren moderiert er jeden Montag im Wechsel eine Selbsthilfegruppe und eine Trialoggruppe, bei der auch Angehörige und Interessierte teilnehmen können. Heute erscheinen elf Kacheln auf dem Bildschirm, einige Teilnehmer haben die Kamera ausgeschaltet. Sie stellen sich vor. „Hallo“, sagt ein Mann, „ich bin Stimmenhörer seit 2003, konstant, jeden Tag höre ich Stimmen, Stimmen, Stimmen.“ Ein Paar sagt: „Wir sind hier, weil unser Sohn Stimmen hört.“ – „Ich höre seit meinem 15. Lebensjahr Stimmen, bei denen ich glaube, dass ich mit den Toten reden kann.“ – „Meine Stimmen kommen von Trauma.“ – „Ich höre seit Anfang der Neunziger Stimmen, seit ein paar Jahren sind es mehrere, böse Stimmen, die mich niedermachen.“

    Ein Therapeut rät: „Die Stimmen nicht frontal bekämpfen, sondern ausweichen, umdeuten“

    Eine junge Frau schaltet sich dazu: „Hi, ich habe eine Freundin, die Stimmen hört – und ich habe den Eindruck, dass sie sehr darunter leidet.“ Was den Betroffenen geholfen habe, besser mit den Stimmen umzugehen, fragt sie. „Mit der Stimme verhandeln“, sagt eine. „Grenzen setzen“, sagt eine andere. Ein berenteter Psychotherapeut sagt: „Die Stimmen nicht frontal bekämpfen, sondern ausweichen, umdeuten. Mehr Judo als Boxen.“ Es sei wichtig, zu erkennen, dass die Stimmen nicht objektiv gefährlich seien – um dann mit ihnen zu verhandeln. „Ich empfehle, die Stimmen wie unangenehme Nachbarn zu betrachten, die umso mehr nerven, je mehr man sich drum kümmert“, sagt er.

    Die Stimmenhörer-Bewegung in Deutschland ist in den Neunzigerjahren entstanden, zu einer Zeit, als das Phänomen weitaus stigmatisierter war als heute – auch seitens der Psychiatrie. Der Behandlungsansatz sah lange vor allem eins vor: Die Stimmen oder auch „akustische Halluzinationen“ verschwinden zu lassen. Dabei halfen und helfen auch heute noch Medikamente, vor allem Neuroleptika. Sie beruhigen und bewirken, dass Körper- und Sinneswahrnehmungen weniger stark empfunden werden.

    Doch dieses Dogma ist im Wandel. Zum einen, weil die Forschung die Stimmen besser erklärbar macht: Man weiß heute, dass sie nicht nur eingebildet sind, sondern sich in Hirnscans nachweisen lassen: Hört man sie, werden ähnliche Gehirnareale aktiviert wie bei realen akustischen Reizen. Auch die Erfahrung der Betroffenen trug dazu bei, dass die moderne Behandlung die Stimmen nicht mehr unbedingt verscheuchen will. Man solle ihnen vielmehr zuhören. Tania Lincoln arbeitet psychotherapeutisch mit Stimmenhörern und hat im vergangenen Jahr in einer Pilotstudie an der Universität Hamburg die „Relating Therapie“ eingeführt: Dabei lernen die Betroffenen, die Beziehung zu ihren Stimmen zu gestalten.

    „Man weiß, dass viele Menschen mit ihren Stimmen in einen Dialog gehen und eine Art Beziehung aufbauen.“

    Tanja Lincoln, Leiterin des Arbeitsbereichs Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Uni Hamburg

    „Man weiß, dass viele Menschen mit ihren Stimmen in einen Dialog gehen und eine Art Beziehung aufbauen“, sagt Lincoln. „Diese Beziehung hat eine große Ähnlichkeit zu den Beziehungen, die man zu anderen Menschen hat.“ Mal sei eine Beziehung mehr von Nähe gekennzeichnet, mal von Distanz; mal von Dominanz oder Unterwürfigkeit. Sei die Stimme laut, dominant und negativ, gehe in der Regel ein hoher Leidensdruck damit einher, ihr zuhören zu müssen. Oft versuchten die Hörenden dann, sie kleinzukriegen, indem sie sich entweder fügen oder zurück schreien. „In dieser Therapieform wird eingeübt, einen selbstsicheren Umgang mit den Stimmen zu finden, Gegenargumente zu bringen und das Gespräch zu beenden, wenn die Stimme nicht aufhört – wie in einer gesunden Beziehung.“ Ziel sei es, dass es keine so große Rolle mehr spiele, ob Stimmen da sind oder nicht. Gelinge das, so zeige die Erfahrung, sprächen die Stimmen leiser oder seltener.

    Heintz schaffte das im Laufe der Jahre. Seit seinem ersten Psychiatrieaufenthalt hat sich viel verändert. Seine Diagnose – erst akute Psychose mit Symptomen einer Schizophrenie, später paranoide Schizophrenie – war damals eine Entlastung. Endlich hatte er Gewissheit, dass Familie und Freunde nicht schlecht über ihn denken oder reden. Heute spielt die Diagnose keine Rolle mehr. „Ich glaube nicht, dass es Sinn macht, so ein breites Spektrum an Phänomenen und Symptomen in so ein Schubladensystem wie Diagnosen zu stopfen“, sagt er. „Das ist ja nur, was die im Krankenhaus brauchen, um einen zu managen. Die Lebensrealität ist viel individueller.“

    Für die Therapeutin ist der Leidensdruck eines Betroffenen entscheidend

    Für Therapeutin Tania Lincoln ist der Leidensdruck einer Person entscheidend – und der ist nicht immer in den Stimmen an sich begründet, sondern kann auch dadurch entstehen, wie die Stimmen bewertet werden. Bewertet man sie als etwas Gefährliches, löst das Ängste aus, und sie werden erst recht zu einer Belastung. Angehörige, Freunde, Ärzte und Therapeuten sollten deshalb nicht erschrocken reagieren, sonst verstärke sich die Verunsicherung. Zusätzlich, sagt Lincoln, müssten mehr psychotherapeutische Angebote in die Versorgung integriert werden, deren Wirksamkeit gut belegt sei. „Mein Eindruck ist, dass in weiten Teilen Deutschlands dann doch immer nur die medikamentöse Behandlung angeboten wird.“

    Auch Jonas Heintz nimmt ein hoch wirksames Neuroleptikum, das zur Behandlung therapieresistenter Schizophrenien eingesetzt wird. Es hat starke Nebenwirkungen. Doch wenigstens funktioniere er so, sagt er. Er geht bouldern und programmiert in seiner Freizeit. Außerdem lässt er sich zum Genesungsbegleiter ausbilden, um anderen Betroffenen in Krisensituationen zur Seite zu stehen, in psychiatrischen Kliniken oder Beratungsstellen. Er fühlt sich stabil. „Ich kann halbwegs mitmachen bei der Gesellschaft“, sagt er. „Das ist schon mal gar nicht schlecht.“ Das finden auch seine Stimmen. Manchmal sprechen sie ihm sogar gut zu. „Das wird schon“, sagen sie dann. „Du packst das!“ *Name von der Redaktion geändert

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