Es muss gegen 9 Uhr am Donnerstagmorgen gewesen sein, als Vishwash Kumar Ramesh kurz mit seiner Familie im englischen Leicester telefonierte. „Mein Vater hatte ihn angerufen“, erzählt sein jüngerer Bruder Nayan Kumar Ramesh. Vishwash habe gesagt: „Oh, wir heben gleich ab.“ Nur wenige Minuten nach dem Start habe der Vater dann einen Anruf von seinem Sohn erhalten, dieses Mal per Video. Er sagte: „Ich weiß nicht, warum ich noch lebe.“ Und: Der 40-Jährige habe sich sofort nach seinem Bruder erkundigt.
Tatsächlich grenzt es an ein Wunder, dass der Familienvater aus London die Katastrophe überstand. Er entkam dem verhängnisvollen Absturz, der 269 Menschen das Leben kostete. Vishwash Kumar Ramesh war Passagier an Bord von Flug AI171, einer Boeing 787-8, die am Donnerstag um 13:38 Uhr Ortszeit in Ahmedabad mit Ziel London-Gatwick startete. Wenige Sekunden nach dem Abheben stürzte die Maschine in ein Hostel im dicht besiedelten Stadtteil Meghani Nagar. An Bord befanden sich 242 Menschen – 230 Passagiere und zwölf Besatzungsmitglieder. 241 Menschen kamen ums Leben, ebenso mindestens 28 Personen am Boden.
Die Familie von Vishwash Kumar Ramesh befindet sich seit dem Unglück in einem tiefen Zwiespalt zwischen Erleichterung und Trauer
Vishwash Kumar Ramesh berichtete später, wie es ihm gelang, sich zu retten. Nach dem Aufprall sei die Tür neben ihm beschädigt oder offen gewesen. Er habe seine Chance genutzt, sich aus seinem Sitz befreit und konnte durch den Notausgang ins Freie gelangen. Aufnahmen zeigen ihn, wie er blutverschmiert und sichtlich benommen vom Unglücksort davonstolpert. Sein T-Shirt zerrissen, in der Hand ein Smartphone, in der Hosentasche steckte noch seine Bordkarte. Er wurde verletzt unweit des Wracks aufgefunden und in ein Krankenhaus in Ahmedabad gebracht.
In den britischen Boulevardzeitungen stand am Freitag die Geschichte des 40-Jährigen im Fokus – als Ausnahmefall, der Schlagzeilen machte. Die Sun titelte: „Der Wunder-Brite auf Platz 11A“. Die Metro schrieb auf Seite eins: „Brite ist einziger Überlebender von Flug 171“.
Gemeinsam mit seinem Bruder Ajay Kumar Ramesh war er nach Indien gereist, offenbar um Verwandte zu besuchen. Am Donnerstag traten sie die Rückreise nach London an. Zwar saßen die Brüder im selben Flugzeug, jedoch offenbar nicht nebeneinander. Während der 40-Jährige das Unglück überlebte, gilt Ajay als eines der Todesopfer. Die Familie befindet sich seit dem Unglück deshalb in einem tiefen Zwiespalt zwischen Erleichterung und Trauer. Während sie dankbar ist, dass Vishwash den Absturz als einziger Passagier überlebt hat, leidet sie unter dem Verlust des 45-jährigen Ajay. „Ich bin am Boden zerstört“, sagte sein Bruder Nayan Kumar Ramesh.
Wie kann ein Mann ein solches Flugzeugunglück mit nur kleineren Verletzungen überleben?
Und auch darüber hinaus reichen die Folgen des Absturzes von Flug AI171 tief in die britisch-indische Gemeinschaft hinein. Nach offiziellen Angaben befanden sich 53 britische Staatsbürger an Bord der Maschine – viele von ihnen mit familiären Wurzeln im indischen Bundesstaat Gujarat. Besonders stark betroffen sind die Gemeinden in London und der Stadt Leicester. In der britischen Hauptstadt kamen am Donnerstag Hunderte Menschen zu Gebeten und Mahnwachen zusammen. Auch in Leicester trauern mehrere Familien um Angehörige, die bei dem Unglück ums Leben kamen.
Wie kann ein Mann ein solches Flugzeugunglück mit nur kleineren Verletzungen überleben? Das Flugzeug sei betankt in ein dicht besiedeltes Gebiet gestürzt, sagte Luftfahrtexperte Graham Braithwaite von der Cranfield University der Nachrichtenagentur PA zufolge. Er könne sich nur vorstellen, dass er aus dem Wrack geschleudert worden sei und etwas den Aufprall abgefedert habe. Wenn man sich die Szene ansehe, müssten die Kräfte auf das Flugzeug enorm gewesen sein. Man könne schwerlich ableiten, dass das der Platz sei, auf dem man immer sitzen müsse, sagte Braithwaite. Wenn ein Flugzeug in ein Gebäude stürze und Feuer fange, gebe es wahrscheinlich nicht viel, was man tun könne, außer Glück zu haben, wo man sitze.
Unbestätigten Berichten zufolge soll es einen „Mayday“-Ruf aus dem Cockpit gegeben haben
Auch nach Einschätzung des Luftfahrtexperten Heinrich Großbongardt sind Sitzplätze in Flugzeugen ähnlich sicher. Allerdings böten Plätze im hinteren Flugzeugteil während eines Absturzes tendenziell eine größere Überlebenschance als in vorderen Kabinen, sagte Großbongardt: „Der Rest des Flugzeugs ist, vereinfacht gesagt, bei vielen Unfällen Knautschzone.“
Warum die Maschine abstürzte, ist bisher nicht klar. Bergungsteams suchten unter anderem nach weiteren Wrackteilen der Boeing 787-8, die eventuell Aufschluss liefern können. Unbestätigten Berichten zufolge soll es einen „Mayday“-Ruf aus dem Cockpit gegeben haben. Die britische Flugunfallbehörde AAIB kündigte an, ein Team nach Indien zu schicken. (mit dpa)
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