47 Minuten erzählt er nun schon wie ein Wasserfall. Ist gesprungen in seiner Geschichte, von einem Datum zum nächsten, von einem Aspekt zum anderen. Vor und zurück, links und rechts – Hauptsache, raus damit. Und dann weiß er plötzlich nicht mehr weiter. Sein Lächeln verschwindet, der Blick geht ins Leere. Seine Gedanken scheinen kurz eine Pause zu brauchen. Es war ja auch aufreibend, was er in der vergangenen Dreiviertelstunde erzählt hat. Sekunden der Stille vergehen. „Und …“, setzt er schließlich an. „Was habe ich gerade gesagt?“
Oziel Inácio-Stech (43), lockiges, braunes Haar, lebt in Berlin – in der Stadt, die manche Reiseführer als eine der queerfreundlichsten Europas bezeichnen. Hier gründete der jüdische Arzt Magnus Hirschfeld im Jahr 1897 die weltweit erste Homosexuellenvereinigung. Hier befand sich zu Zeiten der Weimarer Republik ein Mekka für die internationale Lesben- und Schwulenszene. Hier sagt seit 2020 eine trans Frau die Haltestellen in der U-Bahn an. Es war diese Vielfalt, in die sich Oziel Inácio-Stech bei seinem ersten Besuch im Jahr 2006 verliebte. Und es ist diese Vielfalt, die er heute so sehnlichst vermisst.
Der gebürtige Brasilianer arbeitet als pädagogische Unterrichtshilfe an einer Berliner Grundschule. Und er ist schwul. Seitdem die Schülerinnen und Schüler wissen, dass der Lehrer mit einem Mann zusammen ist, feinden sie ihn an. Mit Mobbing, Gewalt und Diskriminierung. Unterstützung von der Schulleitung? Bekomme er nicht, sagt er. Sein Vorschlag, die Kinder präventiv für das Thema zu sensibilisieren? Abgelehnt. Stattdessen wird ihm vorgeworfen, er habe seine Fürsorgepflicht verletzt. Die Untersuchung wird mangels Tatverdacht eingestellt, aber man weigert sich, ihn zu rehabilitieren. Zur Presse gehen soll er nicht. Doch er tut es – nicht für sich, sondern für all diejenigen, die das Gleiche durchmachen wie er.
Ein homosexueller Lehrer wird an einer Grundschule beleidigt und gemobbt
Es ist ein schwüler Mittwochnachmittag im Juni. Oziel Inácio-Stech kommt gerade vom Einkaufen und trägt zwei prall gefüllte Jutebeutel in seinen Händen. „Ich bin heute schon etwas müde“, sagt er mit portugiesischem Akzent auf dem Weg zu dem Mehrparteienhaus, in dem er mit seinem Mann wohnt. Bei der Schwulenberatung sei er bereits gewesen, erzählt er, und bei der Therapie. Er kramt in den Taschen nach seinem Hausschlüssel.
„Ich werde allen Leuten an dieser Schule erzählen, dass du schwul bist“, habe eine Schülerin sinngemäß zu ihm gesagt, als er seiner Klasse zum ersten Mal von seinem Partner erzählt hatte. Es war ein Montag im Winter, kurz vor der Pandemie. Er hielt es für einen Scherz. Es war kein Scherz.
Inácio-Stech setzt sich in seiner Altbauwohnung auf ein Sofa, auf einem kleinen, runden Tisch hat er koffeinfreien Kaffee und Gebäck bereitgestellt. Diese eine Äußerung des Mädchens also. „Damals habe ich noch nicht gedacht, dass das für Probleme sorgen würde“, meint er.

Schnell verbreitete sich über alle sechs Jahrgangsstufen der Carl-Bolle-Grundschule in Berlin-Moabit, dass Herr Inácio-Stech einen Mann liebt. Rund 62 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben dort eine ausländische Staatsbürgerschaft. Inácio-Stech spricht von einem Migrationsanteil von 95 Prozent. Als die Schule nach dem Lockdown allmählich zum Präsenzunterricht zurückkehrte, begann für den Pädagogen eine Zeit, die er heute als „Albtraum“ bezeichnet.
„Ich möchte nicht pauschalisieren“, betont er. Es habe auch muslimische Kinder gegeben, die „ganz normal“ oder gar unterstützend reagiert hätten. Aber es gab eben auch die, die ihn beleidigten, ihn als „unrein“ bezeichnet und seinen Unterricht boykottiert hätten. Es gab den, der die Tür zu seinem Büro eintrat und rief: „Du Schwuler, geh weg von hier. Der Islam ist hier der Chef.“ Er werde „in der Hölle landen“, hätten sie gesagt. Dass er „eine Familienschande“ sei. „Eine Schande für den Islam.“
Von der Schulleitung, sagt Inácio-Stech, habe er keine Unterstützung bekommen
Was Oziel Inácio-Stech an der Carl-Bolle-Grundschule erfahren hat, erleben homosexuelle Lehrkräfte in ganz Deutschland. Wie viele, darüber lässt sich nur schwer eine Aussage treffen, denn die Datenlage zu queerfeindlicher Diskriminierung an Schulen ist schlecht. 2017 führte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes eine Umfrage unter lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans-, intergeschlechtlichen und queeren Lehrkräften (LGBTIQ) durch. Damals empfanden die Befragten das Arbeitsklima an ihren Schulen zwar grundsätzlich als gut, beobachteten aber eine tendenzielle Zunahme von Queerfeindlichkeit im schulischen Kontext. Und über 30 Prozent der Befragten gaben damals an, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität Diskriminierung erfahren zu haben. Neuere Zahlen gibt es nicht.
Seine Hände zittern ein wenig, als Oziel Inácio-Stech eine E-Mail vom 11. Mai 2023 auf seinem Handy zeigt. „An diesem Tag habe ich zum ersten Mal um Hilfe gebeten“, sagt er. Damals kam es zu einem persönlichen Gespräch mit dem Konrektor, in dem Inácio-Stech schilderte, was er erlebt hatte. Sein Vorgesetzter habe erklärt, er könne die Sorgeberechtigten der verantwortlichen Schülerinnen und Schüler anzeigen. Doch das wollte er nicht. Er wollte eine Intervention – „dass wir präventiv etwas machen, dass die Kinder einen Workshop machen und etwas zu diesem Thema lernen“. Sein Vorschlag wurde abgelehnt. Ein zusätzliches Vielfaltsprojekt sei zu viel, habe der Konrektor gesagt. Die Schule selbst hat sich bis heute nicht zu dem Fall geäußert.

Über Monate hinweg gingen die Anfeindungen weiter. Inácio-Stech dokumentierte und meldete sie. Doch es passierte nichts. Im Gegenteil: Eine Klassenlehrerin, mit der der Pädagoge nicht gut zurechtkommt, beschuldigte ihn im Juni 2024, er sei den Schülerinnen und Schülern zu nah gekommen. Inácio-Stech zeigte sie wegen übler Nachrede an. Und ein paar Tage später erstattete auch die Schulleitung Anzeige bei der Polizei. Nicht gegen die Lehrerin, sondern gegen ihn – er habe seine Fürsorgepflicht verletzt. Im Oktober 2024 hatte Inácio-Stech seine erste Panikattacke.
Schülerinnen und Schüler wurden befragt, doch der Tatverdacht erhärtete sich nicht; die polizeilichen Ermittlungen wurden eingestellt. Der Referatsleiter der Schulaufsicht Berlin-Mitte weigerte sich jedoch, Inácio-Stech zu rehabilitieren. Wies in einem Schreiben vom Februar dieses Jahres vielmehr darauf hin, pädagogische Fachkräfte sollten eine „offene und nichtdiskriminierende Weltanschauung“ vermitteln. Dann reichte es dem Pädagogen.
Gibt es Parallelen mit der Neuköllner Rütli-Schule?
Er wandte sich an die Medien. Das Echo war enorm. Lehrerinnen und Lehrer aus ganz Deutschland bedankten sich bei Inácio-Stech – dafür, dass endlich jemand sagt, was auch sie in der Schule erleben. In seinem E-Mail-Postfach trudelte eine Presseanfrage nach der anderen ein. Sein Fall wurde zum Politikum im Berliner Senat, das auch Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) in die Bredouille brachte. Die sprach erst kürzlich davon, dass es in diesem Fall „nicht mit einer einfachen Schuldzuweisung getan“ sei, „sondern dass wir einen Fall haben, der von gegenseitigen Mobbing- und Diskriminierungsvorwürfen, von gegenseitigem Fehlverhalten oder Vorwürfen des Fehlverhaltens gekennzeichnet ist“. Zugleich kündigte sie eine Überarbeitung der Beschwerdestrukturen in der Bildungsverwaltung an. Außerdem soll der Bildungssenatorin zufolge jetzt mit dem Kollegium der Schule besprochen werden, „ob in den bestehenden Konstellationen weiter zusammengearbeitet werden kann“. Nach Einschätzung der Verwaltung „ist das schwierig und sollte möglichst auch nicht der Fall sein“, nahm sie gleich vorweg. Die CDU-Politikerin selbst steht in der Affäre unter anderem deshalb in der Kritik, weil sie einen Brief des Anwalts von Oziel Inácio-Stech monatelang nicht gelesen hatte, obwohl er direkt an sie persönlich adressiert gewesen war.
Aus dem Kollegium der Carl-Bolle-Schule meldeten sich inzwischen weitere Personen zu Wort. Beklagten, dass gewalttätiges und respektloses Verhalten der Schülerinnen und Schüler ohne Konsequenzen geblieben sei. „Komplettes Systemversagen“, nannte es eine Lehrerin. Eine Formulierung, die an das Jahr 2006 erinnert, als eine andere Schule in Berlin für ähnliche Schlagzeilen sorgte.
Derselbe Mittwoch im Juni, ein paar Stunden zuvor. Vor einem Eisenzaun sitzen fünf Teenagerinnen auf Steinhockern zusammen. Drei tragen ein Kopftuch, eine spielt ein Lied auf ihrem Handy ab. Sie rappen hier und da eine Zeile mit. Zwei Meter hinter ihnen beginnt der Schulhof, das Tor steht offen. Eine Familie spaziert über die gepflasterte Fläche, im Schatten der wenigen Bäume lungern ein paar Jungs. Zu hören ist lediglich das Geräusch eines Rasensprengers. Dabei ging es hier, an der Rütli-Schüle in Neukölln, nicht immer so friedlich zu.

Bis in die 2000er Jahre galt Neukölln als sozialer Brennpunkt. Drogen, Müll, Kriminalität – der Bezirk, der sich über das südliche Stadtgebiet Berlins erstreckt, war bekannt als „Problemkiez“. Und die Rütli-Hauptschule als Problemschule. 2006 kulminierte die Situation in einem „Brandbrief“, in dem sich verzweifelte Lehrkräfte an die Öffentlichkeit wandten: Die Zustände an der Schule würden es teilweise unmöglich machen, zu unterrichten. Die Stimmung sei geprägt „von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz“ den Erwachsenen gegenüber, schrieben sie. „Wir sind ratlos.“
Gemobbter Lehrer fordert Rehabilitierung
Der nördliche Teil Neuköllns ist durch die zunehmende Gentrifizierung mittlerweile ein „Szenekiez“. Und die Problemschule von einst ein Vorzeigeprojekt: Die Rütli-Hauptschule ist nun Teil des „Campus Rütli“, einer Fusion aus Gemeinschaftsschule, Kitas, Jugendfreizeitheim, Gesundheitsdienst und Berufswerkstatt. Cordula Heckmann, die den Campus von 2009 bis 2023 leitete, erhielt für ihr Engagement das Bundesverdienstkreuz.
Der Pädagoge Oziel Inácio-Stech befindet sich momentan in Therapie. Er schläft schlecht, nimmt Medikamente. Ob es einfacher gewesen wäre, er hätte die Schule gewechselt und damit abgeschlossen? Sicherlich. Doch er wählte bewusst den mühsameren Weg. Denn er will, dass diese Sache aufgeklärt wird. Er will rehabilitiert werden. Und er wünscht sich eine unabhängige Beschwerdestelle in Berlin.
Als er darüber spricht, ist ihm die Frustration anzusehen. Dann dreht sich im Türschloss ein Schlüssel – es klackt. Inácio-Stech ist plötzlich gelöst und strahlt übers ganze Gesicht. „Mein Mann ist wieder da“, sagt er und geht zur Wohnungstür. Sein Partner kommt gerade von einer Geschäftsreise zurück. Sie umarmen sich. Zwei Menschen, die sich lieben, und die eigentlich nur eines wollen: Mit dem gleichen Respekt behandelt werden, wie alle anderen auch.
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