Polit-Wirrwarr in Berlin: Wer ist schuld am Afghanistan-Debakel?
In der Bundesregierung zeigt im Afghanistan-Debakel jeder mit dem Finger auf andere. Das Thema ist endgültig im Wahlkampf gelandet.
Während sich am Flughafen von Kabul weiter dramatische Szenen abspielen, am Frankfurter Flughafen Flugzeuge mit aus der afghanischen Hauptstadt Kabul geretteten Menschen landeten, streitet in Berlin die Politik um die Frage, wer für die Pannen bei der Evakuierung verantwortlich ist. Auf der Zielgeraden ihrer Regierungskoalition tauschen Union und SPD Vorwürfe aus, weisen eigene Verantwortung zurück - das Afghanistan-Debakel ist mitten im Wahlkampf gelandet.
Seehofer weist Vorwürfe zurück und will keine konkreten Flüchtlingszahlen nennen
Symptomatisch ist am Donnerstagnachmittag der Auftritt von Bundesinnenminister Horst Seehofer. Der CSU-Politiker bekräftige nach einer Sitzung des Innenausschusses die moralische Verantwortung für die Aufnahme der afghanischen Ortskräfte und ihrer Familienangehörigen. Darüber hinaus könne er keinerlei Prognosen machen über mögliche Flüchtlingszahlen.
Vorwürfe, dass sein Ministerium die Rettung der Helfer der deutschen Bundeswehr durch hohe Anforderungen bei der Visa-Vergabe blockiert habe, weist er zurück: "Für die Vergabe der Visa sind nicht wir zuständig." Er wolle auf niemanden mit dem Finger zeigen, sagt er. Doch klar ist: Der Vorwurf geht in Richtung des Auswärtigen Amtes und dessen Chef, Außenminister Heiko Maas von der SDP. Das Innenministerium müsse lediglich die Sicherheitsfreigabe erteilen. Die sei notwendig, betont Seehofer. Unzumutbare bürokratische Hürden habe sein Ministerium jedenfalls nicht aufgebaut.
Viele Helferinnen und Helfer in Kabul und anderen afghanischen Orten harren noch darauf, dass sie nach Deutschland ausgeflogen werden. Das Zeitfenster dafür wird immer kleiner, gut möglich, dass einige von ihnen bald schutzlos den Taliban ausgeliefert sind. Seehofer wollte dafür die Verantwortung jedenfalls nicht übernehmen. „Innenpolitisch war die Sache Mitte Juni geklärt.“ Damals habe bereits festgestanden, dass man die Ortskräfte zurückholen wolle. Seehofer: „Wir sind als Innenministerium für vieles zuständig. Wir sind aber nicht allzuständig.“
Afghanistan als Wahlkampf-Thema: Jeder zeigt mit dem Finger auf andere
Die Schuldzuweisungen gehen hin und her in der Hauptstadt. Es geht darum, warum Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) die deutschen Rettungsflieger so spät losschickte. Warum Außenminister Heiko Maas (SPD) die Warnungen der eigenen Diplomaten vor den Islamisten offenbar in den Wind schlug. Warum die Geheimdienste, für die Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) zuständig ist, mit ihrer Einschätzung, dass zumindest vor dem 11. September nicht damit zu rechnen sei, dass die afghanische Hauptstadt fällt, derart falsch lag. Für dieses Datum, den 20. Jahrestag der islamistischen Terroranschläge auf die USA, hatten die Amerikaner ihren endgültigen Abzug angekündigt.
Andere Geheimdienste, darunter auch US-amerikanische, mit denen der BND eng kooperiert, waren offenbar zu ähnlichen Einschätzungen gekommen. Bekanntlich kam es anders. Nachdem die Amerikaner die sogenannte „Grüne Zone“ räumten, die streng gesicherte Basis der westlichen Kräfte in Kabul, flüchtete der afghanische Präsident ins Ausland. Seine Truppen streckten kampflos die Waffen, Kabul und das ganze Land fielen fast kampflos an die Taliban.
Horcht man ein wenig in das Auswärtige Amt und das Innenministerium hinein, ergibt sich das Bild einer trotz rascher Geländegewinne der Taliban unverdrossen vor sich hin mahlenden Ministerialbürokratie. Beide Häuser tauschen Akten aus, Abteilungsleiter denken sich Lösungen aus, Staatssekretäre reden darüber. Das Auswärtige Amt wartet darauf, dass das Innenministerium erklärt, welche Afghanen einen Aufenthaltstitel bekommen. Erst wenn das geklärt ist, soll die Botschaft die Visa ausstellen und die in Gefahr Schwebenden ausgeflogen werden.
Das Innenministerium besteht aber auf genauer Prüfung, wer da nach Deutschland kommen soll und denkt sich ein umständliches Verfahren aus. In dem von CSU und vorher von der CDU geführten Haus hat sich in den Köpfen festgesetzt, dass sich eine Flüchtlingskrise wie 2015 nicht noch einmal wiederholen soll. Der damalige Innenminister Thomas de Maizière wollte die Grenzen schließen, konnte sich aber nicht gegen Kanzlerin Angela Merkel durchsetzen.
Innenministerium bestreitet, von möglichen Flügen im Juni gewusst zu haben
Außenminister Maas (SPD) bestand aber nicht auf einer Entscheidung von Innenminister Horst Seehofer (CSU), wer von den afghanischen Ortskräften Schutz in Deutschland erhalten soll. Und alle Entscheidungen – oder besser Nicht-Entscheidungen – fallen aufgrund von Aussagen des Bundesnachrichtendiensts. Der hatte zuletzt nur noch wenige Agenten in Afghanistan, die über kein Beziehungsnetz verfügten. Sie saßen in der Botschaft und waren dafür da, den Kontakt zu den Geheimdiensten der Amerikaner zu pflegen. Die Deutschen waren, wie beim Militäreinsatz, völlig von den USA abhängig. Obwohl am Ende in jeder Zeitung zu lesen war, dass die Islamisten bald Kabul einnehmen würden, reagierte Maas nicht, während seine Beamten weiter Akten austauschten.
Bekannt wurde am Donnerstag auch, dass das Verteidigungsministerium bereits Ende Juni zwei Charterflugzeuge bereitgestellt hatte, um rund 300 Ortskräfte – etwa Bundeswehr-Dolmetscher – aus dem Norden des Krisenlandes auszufliegen. Doch ein Flug fand schließlich nicht statt. Das Verteidigungsministerium teilte mit, dass ein Charterflug nicht notwendig gewesen sei, weil die Menschen Ende Juni noch auf anderem Wege ausfliegen konnten. Das Innenministerium von Horst Seehofer bestreitet, von diesen geplanten Flügen überhaupt gewusst zu haben. Es geht hin und her. Entgegen aller Beteuerungen: Jeder zeigt mit dem Finger auf den anderen.
Die Opposition sieht rund um das Afghanistan-Debakel jedenfalls noch zahlreiche offene Fragen. FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae jedenfalls sieht die Schuld nicht nur beim Geheimdienst, sondern spricht von „Versagen bei einer ganzen Reihe von Stellen“. Das gelte es nun zu aufzuklären. Dazu schloss er auch einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss nicht aus.
Über die aktuelle Lage in Afghanistan informieren wir Sie hier in unserem Live-Blog.
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Afghanistan ist ein Weckruf für Europa und den Westen! Und eine Mahnung an die Politik, bei allem Streit auch geostrategische Interessen fest im Blick zu haben.
Zwar haben vor allem die Menschen in Afghanistan verloren, die sich nach Freiheit sehnten und die jetzt um ihr Leben fürchten müssen. Aber auch der Westen hat als Wertegemeinschaft versagt. Ganz zu schweigen von Europa, dessen Außen- und Sicherheitspolitik sich als fast schon erbarmungswürdig erwiesen hat.
Allerdings gibt es auch Gewinner, leider die falschen: Der Klub der Autokratien mit China im Zentrum bekommt Zuwachs. Das Reich der Mitte wird seinen wirtschaftlichen und politischen Einfluss weiter ausbauen. Kann der Westen noch verhindern, dass Diktaturen die Welt von morgen bestimmen werden? Die Frage ist todernst!
Und deshalb sollte sich Politik nicht zu sehr in einen Streit darüber verbeißen, wer welche Schuld für welche Fehleinschätzung in den letzten Tagen und Wochen hat. Auch wenn kurz vor einer Wahl die Versuchung dafür natürlich riesengroß sein mag. Aber unser Land braucht gerade in stürmischen Zeiten wie jetzt eine geostrategisch fundierte Führung und keine politischen Leichtmatrosen, die das Fähnchen im Wind mit dem Kompass verwechseln!
"Kann der Westen noch verhindern, dass Diktaturen die Welt von morgen bestimmen werden?"
Die westlichen Demokratien werden in den nächsten Jahrzehnten ihre liebe Müh' und Not haben, die Risse in den eigenen auseinanderbrechenden Gesellschaften zu kitten, dass diese Frage sicher nicht an erster Stelle ihrer politischen Agenda stehen kann und wird.
Dass die restliche Welt das dringende Bedürfnis hat politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich nach unserer westlichen Façon selig zu werden, ob das überhaupt wünschenswert und sinnvoll wäre, kann stark bezweifelt werden. Abgesehen davon, dass unser Umgang mit den natürlichen Ressourcen, unsere Art zu leben, unsere Mobilität auf die ganze Menschheit übertragen, den sicheren Untergang zur Folge hätte.
Zu erreichen, dass die bevölkerungsstärksten Länder wie China, Indien usw. unsere Fehler nicht wiederholen, dass es ihnen und auch Russland gelingt, ein Überschwappen des islamistischen Fundamentalismus und Terrors in ihre Länder zu verhindern, wäre schon eine ganze Menge.
Bei der Auswahl von Freunden, Verbündeten, Kampfgenossen ist eine Abkehr von dem Prinzip "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" dringend geboten.
Die Menschheit steht vor der größten existenziellen Herausforderung seit erdenklichen Zeiten. Ob damit Demokratien, Autokratien oder gar Diktaturen besser umgehen können, ist noch nicht entschieden. Und geht es um das nackte Überleben auch nicht von allererster Priorität.