In Deutschland gibt es keine großen Präsidentenpaläste und keine Militärparaden wie in anderen Ländern. Das hat nicht zuletzt historische Gründe.
Nirgendwo wird mit der Macht verschämter umgegangen als in Deutschland. Während man sich in Amerika und Frankreich von einem Präsidenten, lateinisch für Vorsitzender, regieren lässt, ist der mächtigste Mensch bei uns ein Kanzler. An mittelalterlichen Königshöfen nannte sich so der Sekretär, der die Beschlüsse des Monarchen zu einem hübschen Pergament verarbeitete – ein Amt, in dem man sich Angela Merkel und Olaf Scholz gut vorstellen kann.
Angela Merkel hatte mehr zu sagen als ein Kanzler im Römischen Reich
Natürlich hat die Kanzlerin in der Bundespolitik mehr zu sagen, als es der Kanzler des Heiligen Römischen Reiches hatte, aber man gibt sich größte Mühe, es dem Amt nicht anmerken zu lassen. Militärparaden und Feiertage, wie sie die großen Präsidenten in Washington und Paris zelebrieren, kennt die Bundesrepublik nicht. Statt aus einem Palast mit üppigen Parkanlagen wird sie aus einem Betonklotz regiert, der auch eine größenwahnsinnige Kreissparkasse beherbergen könnte. Das Schloss und die große Rede sind in Deutschland dem Bundespräsidenten vorbehalten, der aber wiederum keine Macht hat. Das ist auch vernünftig, denn Macht klingt für viele in Deutschland seit den Dreißigerjahren nach Zwang, Autorität und Unterdrückung. Das riecht nach Stahlhelm, braunen Hemden und blauen Halstüchern.
Wahrscheinlich ist das Berliner Understatement dennoch ehrlicher als das Protzen in Paris oder Washington. Schließlich ist auch die Macht von Joe Biden und Emmanuel Macron begrenzt, wenn nicht eine ganze Reihe von Leuten kooperiert – von den Abgeordneten über den Streifenpolizisten bis hin zur Masse mehr oder weniger normaler Menschen, die sich Tag für Tag mehr oder weniger an die Regeln halten.
Macht ist nicht immer sichtbar – das zeigen Beispiele aus Familie oder Politik
Auch Hitler, Honecker und die Hohenzollerns hätten sich ohne sie nicht im Sattel halten können. Wer die Ereignisse in den Regierungsvierteln aufmerksam verfolgt, der merkt, dass Kanzler, Diktatoren und Präsidentinnen mindestens so oft Getriebene wie Treiber sind. Wahlvolk, Parteifreunde und Wirtschaftsbosse müssen bei Laune oder mindestens auf Linie gehalten werden, wenn man etwas erreichen will.
Zudem hat die Politik mit dem Leben der meisten Menschen nur mittelbar etwas zu tun. Viel häufiger spüren sie Macht in anderen Kontexten. Ein paar dieser Beziehungen wollen wir versuchen für Sie in dieser Themenwoche zu beleuchten – zum Beispiel die Macht der Wirtschaft. Oder die Macht der Familie. Oder die Macht von Zeitungen, Fernsehsendern und Internetseiten, die den Menschen die Informationen liefern, aus denen sie sich ihre Weltsicht bauen.
Facetten der Macht können Wahlentscheidungen beeinflussen
Diese und hunderte andere Facetten der Macht greifen ineinander wie eine komplizierte Maschine und wirken sich auf alle Entscheidungen, die die Menschen treffen, aus. Nicht zuletzt auf die Wahlentscheidung. Und damit wären wir dann auch wieder bei der Politik.
Diese ist ja die Kunst des Möglichen – grundlegende Dinge zu ändern, ist mit ihren Mitteln häufig unmöglich. Weil Menschen sich nicht vorschreiben lassen wollen, mit wem sie zusammenleben und was sie anschauen dürfen. Auch in der Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft ist häufig unklar, wer Koch und wer Kellner ist. Hinzu kommt: Wer eine Chance bei einer Wahl haben will, darf sich nicht zu weit von der Mehrheit entfernen. So funktioniert unsere Demokratie – und so entstehen am Ende auch unsere Gesetze, die ja nichts anderes sind, als moderne Pergamente mit den Beschlüssen des Souveräns.