15 Jahre nach Columbine-Amoklauf: Das hat sich an Bayerns Schulen getan
Vor 15 Jahren töteten zwei Jugendliche an der Columbine High School nahe Littleton zwölf Schüler und einen Lehrer. Seitdem ist an Schulen viel passiert - auch an bayerischen.
Sie sind mit ihren Leben nicht zufrieden. In der Schule werden sie gegängelt und unter Druck gesetzt. Zu Hause schaut der Vater nur in die Glotze, die Mutter interessiert bloß, ob dem Sohn das Essen schmeckt. Jeden Tag das gleiche Ritual. Langsam reift in drei Jugendlichen der Entschluss, den Alltag zu durchbrechen.
Sie legen mit der Kleidung ihre Vergangenheit ab, hüllen sich in schwarze Klamotten – und machen Jagd auf bisherige Mitschüler und Lehrer. Systematisch durchstreifen sie das Schulgebäude: Wer ihnen in den Weg gerät, wird ohne jegliche Gnade erschossen. „Headshot“ rufen die drei immer wieder, wenn sie ein Leben ausgelöscht haben. Kopfschuss.
Betroffene Schüler: Sie kennen die Opfer und auch den Täter
Es ist zwar nur Theater. Aber bei einer siebten und achten Klasse verfehlt das Stück „Amoklauf mein Kinderspiel“ am Memminger Landestheater Schwaben nicht seine Wirkung. Wurde vorher hier und da noch gekichert, ist es am Ende der Mordorgie mucksmäuschenstill. In den Gesichtern mancher Schüler ist Betroffenheit zu erkennen. Schließlich ist es erst knapp zwei Jahre her, dass an der Memminger Linden-Mittelschule, wenige Autominuten von ihrem Gymnasium entfernt, ein damals 14-Jähriger um sich geschossen hat.
Verletzt wurde niemand, der Täter später zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Viele der Kinder haben gute Freunde an dieser Schule, einzelne kennen den Verurteilten. Einem Jungen wurde erzählt, es sei „einfach schrecklich“ gewesen an diesem 22. Mai, dem Tattag. Beim Nachgespräch des Theaterstücks wollen die drei Schauspieler dann wissen, ob Amok an der eigenen Schule seither thematisiert wurde, ob sie und die Lehrer wissen, was sie in einem solchen Fall tun müssen. Kopfschütteln.
Notfallplan durch Vorschrift
Das ist symptomatisch für viele Schulen im Land. Recherchen unserer Zeitung haben ergeben, dass es zwar wohl überall Konzepte für den Notfall gibt – was vom Kultusministerium vorgeschrieben ist. Jedoch sind nicht immer alle Eventualitäten berücksichtigt, besprochen werden die Pläne wenn überhaupt nur einmal im Jahr, und an vielen Bildungseinrichtungen bleiben Schüler dabei außen vor.
Umbauten gab es selten. In Augsburg fiel laut Schulreferent Hermann Köhler an einer Schule erst nach der Amokdrohung am Fugger-Gymnasium Ende 2013 auf, dass einige Räume nicht abgeschlossen werden konnten. Dabei hatten bisherige Taten gezeigt, dass Täter vor allem offene Zimmer suchen.
Unwissenheit und Kultur des Schweigens
Diese Erkenntnis und viele weitere Forschungsergebnisse sind auch in die Publikationen von Britta Bannenberg eingeflossen. Sie ist Professorin für Kriminologie an der Universität im hessischen Gießen und eine der bundesweit am häufigsten zitierten Expertinnen für Amokläufe, gerade nach den Bluttaten im baden-württembergischen Winnenden und dem fränkischen Ansbach.
An der Realschule in Winnenden und weiteren Orten tötete ein ehemaliger Schüler am 11. März 2009 15 Menschen und dann sich selbst. Am 17. September desselben Jahres verletzte in Ansbach ein 18-Jähriger mehrere Schüler und eine Lehrerin.
Nach den Taten gab es laut Bannenberg viele Fortbildungen zu dem Thema – aber nicht an jeder Schule. „Manche Schulleitungen und Eltern ignorieren es, nicht nur in Bayern“, sagt sie. „Vielfach herrscht eine Kultur des Schweigens. Schulen wollen nicht mit Amok in Verbindung gebracht werden.“
Eine Erfahrung, die auch Sonni Maier gemacht hat. Sie kommt aus dem Allgäu, lebt inzwischen im Ruhrgebiet und tourt mit einem Theaterstück zu dem Thema durchs Land. Anfragen aus Bayern bekomme sie selten.
Prävention ist am wichtigsten
„Hier gibt es an vielen Schulen keine große Bereitschaft, sich mit schwierigen Themen auseinanderzusetzen“, erklärt sie. Doch sie sagt auch, dass es sehr engagierte Schulen gebe. Was Britta Bannenberg ebenfalls hervorhebt: „Es hat sich nach Ansbach etwas getan, aber es könnte viel mehr sein.“ Zumal die Verantwortung meistens bloß hin- und hergeschoben werde.
In der Tat überträgt das Kultusministerium die Verantwortung den Schulen und deren Trägern. In München heißt es, die Bildungseinrichtungen müssten sich um Notfallkonzepte kümmern, die mit der Polizei abzustimmen sind. Die wiederum berät nur, wird im Präsidium Schwaben Nord betont. Kontrollen gibt es nicht. Zudem fehlen einheitliche Vorgaben.
Denn jede Einrichtung sei anders – und die Verantwortlichen sollten sich selbst Gedanken machen, anstatt Pläne zu übernehmen. Und wenn Schulen schlecht ausgestattet sind – Polizisten wissen etwa von fehlenden Lautsprechern in einzelnen Gebäuden – wird wieder auf die höhere Ebene verwiesen. Aber da es absolute Sicherheit nun einmal nicht gebe, sei die Prävention am wichtigsten.
"Wir setzten auf Vertrauen"
Das ist beispielsweise dem Gymnasium Oettingen bei Nördlingen ein besonderes Anliegen. Es ist eine der Vorzeigeschulen in Bayern und für die pädagogische Arbeit oft ausgezeichnet worden. Die meisten Klassen haben keine Türen mehr, helle Farben dominieren das Gebäude, in der Schülerbibliothek gibt es einen Meditationsraum. Es herrscht eine Wohlfühl-Atmosphäre.
„Wir setzen auf Vertrauen“, erklärt Direktorin Claudia Langer. Die Schüler werden in Präventionsprojekte eingebunden und organisieren sie mit. Statt nur für Prüfungen zu lernen, sollen Kinder und Jugendliche Wissen nachhaltig erwerben. Trotz allem gibt es ein Sicherheitskonzept – das nicht darauf baut, dass sich Schüler und Lehrer verbarrikadieren. Die Polizei und Forscher wie Britta Bannenberg raten aber dazu.
Flucht in Richtung Wohngebiet – und dabei in die Schusslinie
Stattdessen müssten Schüler und Lehrer fliehen, um ins nahe Wohngebiet oder in die verschließbare Turnhalle zu gelangen – und könnten einem Täter so in die Schusslinie laufen. Ein Konzept, das nicht bei allen in der Schule auf Zustimmung trifft, wie zu hören ist. Die Schüler würden auch erst im Ernstfall durch Lautsprecherdurchsagen erfahren, was zu tun ist.
Dabei wüssten sie gerne vorher, wie sie sich schützen können, sagt Schülersprecherin Yvonne Schittenhelm – was nicht nur in Oettingen gescheut wird, um keine Angst zu schüren, einem Täter keine Informationen preiszugeben und niemanden auf dumme Gedanken zu bringen. Ansonsten lobt die 16-Jährige das Schulklima und geht davon aus, dass das soziale Netz der Schule Unglückliche auffängt.
Bei den „Theater-Tätern“ hat es nicht geklappt. Aber ihr Amoklauf stellt sich am Schluss auch als Szene eines Ballerspiels heraus – das die meisten Amokläufer benutzten, um ihre Morde realistisch zu üben.
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