Bombe erschüttert ganz Russland
Zwei Jahrzehnte lang bleibt St. Petersburg von Attentaten verschont. Dann reißt die Explosion in der U-Bahn die Stadt aus der trügerischen Ruhe. Wer steckt dahinter?
Dicker, grauer Rauch hängt in der Luft, blutende Menschen liegen auf dem Bahnsteig. Für ein paar Minuten herrscht eine seltsame Stille in der Metro-Station. All die Leute, die es hier sonst meistens eilig haben, bleiben stehen. Viele reiben sich die Augen oder wickeln sich einen Schal schützend um den Mund. Andere versuchen, hilflosen Menschen zu helfen. Doch in vielen Fällen kommt die Hilfe schon zu spät. St. Petersburg, die beliebte russische Touristenmetropole und moderne Stadt an der Ostsee, ist Ziel eines Terroranschlages geworden. Genau in dem Moment, als sich auch Wladimir Putin in der Stadt aufhält.
Es hätte für den Kreml-Chef ein Tag mit viel Routine werden können. Bei einem Termin in seiner Heimatstadt spricht er über die russische Wirtschaft, danach ist noch ein Treffen mit seinem weißrussischen Kollegen Alexander Lukaschenko angesetzt. Doch um 14.40 Uhr Ortszeit zerreißt eine Explosion die Ruhe in der Stadt. Behördenquellen schätzten die Sprengkraft der Bombe später auf 200 bis 300 Gramm TNT.
Zwischen den U-Bahn-Stationen Sennaja Ploschtschad und Technologisches Institut explodiert eine Bombe. Der Fahrer bringt den Zug noch in die nächste Station, dort wird das Ausmaß der Explosion sichtbar: Eine Tür des Waggons ist zerfetzt, am Rand klebt das Blut von getöteten und verletzten Menschen. „Ich war mit meinen Freunden unterwegs. Plötzlich dieser Knall“, sagt eine junge Frau im Fernsehen. Aus Angst vor den schrecklichen Bildern habe sie sich nicht einmal umgedreht und sei einfach ins Freie gelaufen. Tatsächlich hätte es noch viel schlimmer kommen können: Denn eine zweite Bombe, direkt platziert in einer Metrostation unter dem größten Bahnhof der Stadt, explodiert nicht. Ermittler finden sie und machen sie unschädlich.
Trotzdem sterben an diesem Tag mindestens zehn Menschen, dutzende kommen mit schweren Verletzungen in die Krankenhäuser. Die zweitgrößte Stadt Russlands befindet sich im Ausnahmezustand. Das komplette Metro-System wird evakuiert, in Teilen St. Petersburgs bricht der Verkehr zusammen. Hubschrauber kreisen am Himmel. Sennaja Ploschtschad liegt im Herzen der Stadt, hier zieht es Einwohner wie auch Touristen hin, die nach den Schauplätzen von „Schuld und Sühne“ suchen – dem St.-Petersburg-Epos von Fjodor Dostojewski. Es ist einer der belebtesten Orte in der ganzen Stadt. Nicht nur hier, sondern in ganz Russland herrscht Schockstarre: Jahrelang wähnten sich das Land und seine Millionenstädte in einer relativen Ruhe. Das alles ist in diesem Moment vergessen. Die Szenerie erinnert an die Anschläge in Moskau vor sieben Jahren: Zwei Sprengsätze, gespickt mit Schrauben und Nägeln, explodierten damals in Metro-Stationen im Zentrum der Hauptstadt – und töteten 38 Menschen. Für das Blutbad übernahm der tschetschenische Guerillakämpfer und Terrorist Doku Umarow die Verantwortung.
Die Fünf-Millionen-Stadt St. Petersburg blieb in den vergangenen 20 Jahren verschont. Doch seit gestern stellt sich auch dort die Frage: Stecken hinter dem Anschlag wieder tschetschenische Terroristen? Putin ließ kurze Zeit nach der Explosion wissen, man ermittle in alle Richtungen. Die Staatsanwaltschaft bestätigte kurz darauf den Verdacht, es handle sich um einen Terrorakt. Seit Russland Lufteinsätze gegen die Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien fliegt, ist das Land in deren Visier geraten. Erst Ende März kamen bei einer Attacke auf eine Kaserne in der Unruheregion Tschetschenien sechs russische Soldaten ums Leben.
Und gestern? Überwachungskameras geben erste Spuren preis: Eine Person soll in einer Aktentasche die Bombe platziert haben. Sogar Fotos der verdächtigen Person sollen im Internet kursieren. Die Behörden fahnden später nach zwei Verdächtigen. Das Bild eines Verdächtigen wurde publiziert. Seit den Anschlägen in der Moskauer Metro wird in russischen U-Bahn-Stationen jeder Winkel beobachtet. Regelmäßig patrouillieren Polizisten mit Spürhunden durch die Bahnhöfe und Stationen – und kontrollieren immer wieder verdächtig aussehende Menschen. Den Anschlag von St. Petersburg konnten auch sie nicht verhindern. Claudia Thaler, dpa
Die Diskussion ist geschlossen.