Wie Großbritannien durch den Brexit zum Zirkus wurde
Eigentlich wollten die Briten heute ihre Unabhängigkeit feiern, ihre Befreiung aus der EU. Stattdessen herrscht das blanke Chaos. Wie konnte es so weit kommen?
Es war unausweichlich. Theresa May konnte nicht länger nur als bösartiger Clown gezeichnet werden, der sie so lange war. Mit weiß geschminktem Gesicht, der spitzen Hakennase, den tiefen Augenringen und den Schuhen im Leoparden-Look. Die britische Premierministerin siechte politisch in der Downing Street dahin, so dass Steve Bell sie gar nicht zum Zombie weiterentwickeln musste.
Nur, das war vor fast zwei Jahren. Die Regierungschefin ist bis heute im Amt, auch wenn sie am Mittwoch ihren Rücktritt angeboten hat, sollte das Parlament den mit Brüssel ausgehandelten Austritts-Deal billigen. Für wann? Bell hätte auch bei dieser Frage einige Flüche parat. Und das liegt nicht nur daran, dass er weiterhin täglich vor der Herausforderung steht, die Regierungschefin zu karikieren. „Es gibt eine Grenze, inwiefern man ausdrücken kann, wie stupide, wie borniert, wie kleingeistig, wie langweilig, wie lächerlich Theresa May ist“, sagt er.
Zurückhaltung ist seine Sache nicht, ebenso wenig wie der objektive Blick. Der 68-Jährige ist vielmehr ein Mann, der die Konfrontation liebt und die Tories hasst. Seit fast 40 Jahren zeichnet er als Karikaturist für den Guardian und wenn er auf das Chaos in Westminster blickt, sprudeln die Schimpfwörter nur so aus ihm heraus. Der Brexit hat das Land übernommen, ist in jeden Lebensbereich geschlichen. Im Fernsehen und in den Zeitungen. Am Frühstückstisch und im Pub. Hier die Brexit-Gegner. Dort die EU-Freunde. Ohne Aussicht auf Versöhnung. „Man spürt eine Verbitterung im Land und ein Gefühl von allgemeiner Unzufriedenheit“, sagt Bell. Für ihn seien die Zeiten wieder so schlimm wie damals unter Margaret Thatcher. Solche Worte aus dem Mund des Linksintellektuellen – das will etwas heißen.
Tatsächlich herrscht im Königreich knapp drei Jahre nach dem EU-Referendum und exakt zwei Jahre nach dem Beginn des Austrittsprozesses das blanke Chaos. Am Freitag, 29. März, wollten die Brexit-Anhänger eigentlich ihren sogenannten „Unabhängigkeitstag“ feiern, endlich befreit von den Fesseln der Europäischen Union, auf dem Weg in eine glorreiche Zukunft. Doch die Union-Jack-Flaggen sind wieder eingepackt, der B-Day ist verschoben. Die Insel wird vielmehr beherrscht von Ungewissheit, internen Machtkämpfen, einem beispiellosen Durcheinander. Das Parlament präsentiert sich über der Europafrage genauso zerstritten wie das Volk und niemand weiß, wie es weitergehen soll. Wie der Brexit umgesetzt werden kann. Ob es überhaupt zur Scheidung kommt. Es ist nicht einmal mehr klar, wer das Land aus der EU führen wird, nachdem die Zukunft von May ungewisser denn je ist.
Der Brexit hat die britische Politik vergiftet
Am heutigen Freitag will sie, die Störrische, die mittlerweile mehr als Problem denn als Lösung gesehen wird, den Abgeordneten den Deal abermals vorlegen. Die Aussichten auf einen Erfolg aber sind so trüb wie das Wasser der Themse. Zwei Mal wurde der Vertrag bereits abgelehnt. May dürfte abermals krachend scheitern. Und müsste wohl dann auch gehen. Was folgt, wer weiß das schon. Selbst wenn der Deal schlussendlich vom Parlament abgesegnet wird, stehen dem Land mühsame Jahre voller Verhandlungen mit der EU und dem Rest der Welt bevor. Der Brexit hat die britische Politik auf Jahre hin vergiftet.
Bronwen Maddox, Direktorin der renommierten Londoner Denkfabrik „Institute for Government“, tippt auf Neuwahlen als möglichen Weg aus der Sackgasse. „Ich denke nicht, dass wir eine konstitutionelle Krise haben, das System, die Strukturen funktionieren.“ Vielmehr lägen die Parteien – die Konservativen als auch Labour – am Boden und hätten ihrer Meinung nach keinen „guten Job erledigt“, die Menschen zu repräsentieren, die sich für den Brexit ausgesprochen haben.
Ohnehin habe das Votum nur jene Spaltungen an die Oberfläche gespült, die es seit langem gab. London und das restliche Land. Die ältere Generation im Gegensatz zu den Jungen. Unterschiedliche Interessen in England, Schottland, Wales und Nordirland. „Es ist Großbritannien nicht geholfen, wenn es von außen immer als das konservative Land mit den langen Traditionen und all seiner Geschichte wahrgenommen wird“, sagt Maddox. In der Realität handele es sich um ein Land, das sich unglaublich schnell verändere und in den letzten Jahrzehnten einen großen Wandel erlebt haben. Immerhin, die Auseinandersetzung mit dem Brexit habe das Königreich sehr viel politischer werden lassen.
Sechs Millionen Menschen unterzeichneten bis Donnerstag eine Petition, die den Rückzug von Artikel 50 und den Verbleib in der Staatengemeinschaft fordert. Jene 48 Prozent, die beim Referendum den Europaskeptikern unterlagen und sich vergessen fühlen von May & Co., lehnen sich zunehmend auf. Erst am vergangenen Samstag ging rund eine Million Demonstranten für eine zweite Volksabstimmung auf Londons Straßen. Es war bunt. Und friedlich. Ein Festival für Europa mit flatternden EU-Fahnen und Plakaten, auf die Protestler „Fromage not Farage“ geschrieben hatten. Käse statt Farage – eine Anspielung auf den Rechtspopulisten Nigel Farage, der als ehemaliger Chef der europahassenden Partei Ukip nicht müde wird, das Land gegen Brüssel aufzuhetzen. Auch Farage wollte kürzlich marschieren, vom nordenglischen Sunderland aus sollte es bis in die Hauptstadt gehen. Doch zum Auftakt des Pro-Brexit-Marsches erschienen lediglich 70, 80 Leute. Ein Rohrkrepierer, wie sie da im englischen Regen durch den Matsch stiefelten und sehr schnell im Pub landeten, dem Lieblingsort von Farage. Offenbar war der Ärger auf die Elite, die den Leave-Wählern angeblich ihren ersehnten Brexit zu „rauben“ versucht, leichter wegzutrinken. Das Ganze wirkte mit und ohne Bier deprimierend.
Seit dem Brexit-Referendum ist das Leben auf der Insel ein anderes
Es sind Politiker wie Farage, die Maike Bohn so verachtet. Vor 27 Jahren zog die Deutsche als Geschichtsstudentin auf die Insel, voller Liebe für das Land, den Humor, das manchmal Skurrile. Seit dem Referendum aber ist das Leben für sie ein anderes. „Ich habe erlebt, wie Patriotismus in billigen Nationalismus umgeschlagen hat“, sagt Bohn, die nur eine Woche nach der Volksabstimmung in einer Kneipe in Bristol mit einem ebenso besorgten Franzosen die Organisation „the3million“ gegründet hat. Verloren und traurig. Wütend und frustriert. So fasst die 51-Jährige ihre Emotionen zusammen, wenn sie auf die vergangenen zwei Jahre blickt, auf den noch immer unsicheren Status der auf der Insel lebenden Bürger der übrigen Mitgliedstaaten, auf die angestiegene Zahl von Hassverbrechen gegen Einwanderer. „Es gab immer schon Rassismus, doch das Schlimme ist, dass er von oberster Stelle gefüttert wurde“, kritisiert Bohn. So unterstelle Premierministerin Theresa May etwa mit ihrer Aussage, EU-Bürger wären willkommen, „wir sind alle Gäste im Land“. Das sei schmerzhaft für Menschen, die teilweise seit Jahrzehnten das Königreich als ihre Heimat betrachten.
Hat der Brexit dem Land nachhaltigen Schaden zugefügt? Oder sind jetzt nur viele Probleme offengelegt worden? Vor gut 20 Jahren mag Tony Blair als Premier Großbritanniens neuen Optimismus verkörpert haben – jenes „Cool Britannia“, auf das die Briten stolz waren und das Ausland bewundernd blickte. Der geflügelte Begriff strahlte in alle möglichen Ecken dieser Welt aus. Britpop-Bands wie Oasis führten die Hitlisten an, im Radio liefen Lieder von den Spice Girls oder Take That in Dauerschleife. Das hippe England dominierte Mode, Kultur und Design. Die Wirtschaft boomte, brachte Wohlstand und Arbeitsplätze, Investoren und Einwanderer wurden willkommen geheißen. Die wiederum machten das bunte London noch kosmopolitischer und multikultureller, als es ohnehin schon war.
Dieses Image, das auch 20 Jahre später noch Touristen anzieht, war stets nur ein Teil der Wahrheit, so Bohn. „Es ging nicht allen gut.“ Und die Dinge verschlechterten sich. Insbesondere die Sparpolitik der Konservativen in den letzten zwei Jahrzehnten, die wachsende Ungleichheit, die ungerechte Ressourcen-Verteilung im Land – „auf einmal ist das alles aufgebrochen und nun gibt es kein Zurück.“ Der Brexit könnte deshalb etwas Reinigendes haben. „Es ist, als wasche man nun die schmutzige Wäsche vor der Weltgemeinschaft, doch sie muss jetzt gewaschen werden“, sagt Bohn. Für sie stellt sich nur die Frage, wie schnell sich Großbritannien aus dieser Starre lösen kann und etwas Produktives daraus schafft.
Durch die Wut auf Thatcher kam Steve Bell zum Zeichnen
Den Karikaturisten Steve Bell führte die Wut auf die konservative Premierministerin Margaret Thatcher zur politischen Zeichnung. Er attackierte sein Feindbild stets durch die Darstellung mit irren Augen. Manche auf der Insel, auf der eine jahrhundertealte Tradition für so bissige wie schonungslose Cartoon gehegt wird, nennen Bell eine Legende; seine beispiellos respektlosen Darstellungen der Volksvertreter sind zu Klassikern geworden. John Major mit der Unterhose über dem Anzug. Tony Blair mit Eierkopf, Riesenohren und einem weit aufgerissenen, leuchtenden Auge, das auf Thatcher hinweist. David Cameron als Kondom, weil dieser „so aalglatt“ sei. Über dieses Motiv redet Bell mit besonderem Stolz, vermutlich auch deshalb, weil der „prüde“ Cameron keineswegs ein Fan seines Verhütungs-Ebenbildes war. Der große, bärtige Bell lachte, wie er gerne lacht, tief und laut und viel. Als David Cameron nach dem EU-Referendum 2016 zurücktrat, war auf der entsprechenden Karikatur die Luft aus dem Kondom herausgelassen, daneben Brexit-Wortführer Boris Johnson als Hund mit viel blondem Haar.
Steve Bell sitzt in seinem hellen Atelier in Brighton, einem verglasten Anbau, wo Wasserfarben und Zeichnungen, Skizzenblöcke und Stifte, Zeitungen und Bücher durcheinanderliegen – sein Arbeitsort ist unaufgeräumt und wird nur noch getoppt vom Chaos in seinem Büro im Haus, wo er seine Originale lagert.
Der Künstler führt anhand seiner Karikaturen durch die vergangenen Jahre. Es ist die Geschichte des Brexit. Schmerzvoll irgendwie. Frustrierend auch. „Das Referendum hat die schlechtesten Aspekte der Politik hervorgebracht und noch verstärkt“, sagt Bell. Dass Großbritannien nun in dieser Situation stecke, sei allein die Schuld der Tories. „Dem Großteil der Bevölkerung war das Thema Brexit völlig schnuppe.“
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Entscheidend ist: Die Chancen für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU oder zumindest für einen "Soft Brexit" sind jetzt so groß wie nie!
Siegt am Ende doch noch die Vernunft?