Großbritanniens Angst vor dem Corona-Déjà-vu
Die Infektionszahlen steigen drastisch an. Experten fordern schnelle Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Doch die Regierung will davon nichts wissen.
Die Tage werden kürzer und in den Parks sieht man die ersten Menschen mit Schals und Mützen die Wege entlangschlendern. Die romantische Herbststimmung wird jedoch getrübt. Denn mit den sinkenden Temperaturen steigt im Vereinigten Königreich die Zahl der Menschen, die sich mit Covid-19 infiziert haben. Seit Anfang Oktober hält dieser Trend an. Am Dienstag starben an einem Tag 223 Menschen an dem Virus – so viele wie seit sieben Monaten nicht mehr. Auch die Einweisungen ins Krankenhaus nehmen zu, jeden Tag werden knapp 48.000 neue Infektionen gezählt. Damit gehört Großbritannien im Verhältnis zur Größe der Bevölkerung zu den Ländern mit den meisten Covid-Fällen weltweit.
Wissenschaftler und Epidemiologen drängen nun darauf, dass der so-genannte Plan B der Regierung so schnell wie möglich umgesetzt wird. Darin vorgesehen sind Maßnahmen wie eine Maskenpflicht, Impfausweise und die Empfehlung, von zu Hause aus zu arbeiten. „Frühes Handeln ermöglicht es, dass man weniger drastisch eingreifen muss“, sagte Mark Woolhouse, Teil des wissenschaftlichen Beraterteams „Scientific Pandemic Influenza Group on Modelling“, kurz Spi-M. Auch Matthew Taylor, Leiter der „NHS Confideration“, die das Gesundheitssystem in England, Wales und Nordirland repräsentiert, ist besorgt: „Wir stolpern in eine Krise.“ Schon jetzt sei das System an den Grenzen der Belastbarkeit.
Experten fordern, Jugendliche schneller zu impfen
Es steht die Befürchtung im Raum, dass man angesichts der steigenden Zahlen womöglich bald schwere Entscheidungen treffen müsse, wenn es darum geht, welche Patienten behandelt werden und welche nicht, heißt es aus Kreisen des „National Health Service“ (NHS). Um dem Problem zu begegnen, bräuchte man Taylors Meinung nach nicht nur einen Plan B, sondern eine Mobilisierung der Bevölkerung, ähnlich wie man es in der zweiten und dritten Welle gesehen hat. Damals hätten die Menschen viel Einsatz gezeigt, um das Gesundheitssystem zu schonen.
Neil Ferguson, Wissenschaftler am Imperial College London, betonte außerdem, dass man mehr Jugendliche in kürzerer Zeit impfen und außerdem die Auffrischungen schneller vorantreiben müsse. Vonseiten der Regierung wurden die Forderungen nach der schnelleren Einführung von Maßnahmen wie einer Maskenpflicht am Mittwoch jedoch zurückgewiesen. „Ich sehe keinen Grund, warum wir unseren Kurs zurzeit ändern sollten“, sagte Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng. Auch ein erneuter Lockdown sei aktuell nicht vorgesehen. Man müsse jedoch dafür sorgen, dass die Menschen schneller eine Auffrischungsimpfung erhalten können, räumte er ein.
Unter Schulkindern sind die Infektionsraten am höchsten
Die langsam anlaufenden „Booster“-Impfungen sind nach Meinung vieler Experten jedoch nur einer der Gründe, warum die Zahlen im Vereinigten Königreich gerade drastisch steigen – insbesondere in England. Dafür verantwortlich gemacht wird auch der „Freedom Day“. Denn als am 19. Juli dieses Jahres sämtliche Corona-Schutzmaßnahmen fielen, war das Virus längst nicht eingedämmt. Eine große Rolle spielten in diesem Zusammenhang auch die Schulöffnungen seit September. Auch dort tauscht man sich viel aus, trägt keine Maske und wenige Jugendliche sind geimpft. „Die Infektionsraten sind bei Schulkindern am höchsten“, sagt Andrew Hayward, Epidemiologe am University College London.
Die Erinnerungen an den letzten Winter sind bei den Briten noch präsent. In der schlimmsten Phase der Pandemie wurden täglich rund 4000 Menschen in Krankenhäuser eingeliefert. Im Januar dieses Jahres verzeichneten die Behörden zeitweise mehr als 1300 Tote pro Tag. Nur durch einen monatelangen harten Lockdown ab Januar konnte man die Lage in England schließlich unter Kontrolle bringen. Ein detaillierter Bericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission bescheinigte der Politik erst vergangene Woche, damals „schwere Fehler“ gemacht zu haben.
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