Darum geht es bei den Brexit-Abstimmungen heute Abend
Heute debattiert das britische Parlament erneut um den Brexit-Kurs. Gibt es einen Weg aus der Sackgasse?
Die Suche nach einem Weg aus der Brexit-Sackgasse geht in eine neue Runde. Während die Abgeordneten in den nächsten Stunden erneut hitzig über mögliche Szenarien debattieren, stimmen sie heute Abend über Änderungsanträge für das Abkommen ab, das Premierministerin Theresa May mit Brüssel ausgehandelt hat.
Es geht also weniger um den Deal als solchen, sondern um diverse Zusätze – die jedoch den Austrittskurs erheblich formen und umgestalten könnten. So könnte etwa May gezwungen sein, dem Unterhaus mehr Mitsprache einzuräumen. Bislang scheint es die Strategie der Regierungschefin, auf Zeit zu spielen. Die Angst vor einem ungeordneten Brexit und der näher rückende 29. März sollen den Widerstand im tief gespaltenen Unterhaus brechen und gleichzeitig in Brüssel Bereitschaft wecken, weitere Zugeständnisse an Großbritannien zu machen.
In zwei Monaten tritt das Königreich aus der Gemeinschaft aus, sollte es bis dahin keine Verlängerung von Artikel 50 und damit eine Verschiebung des Termins geben. Kracht das Land – ob absichtlich oder aus Versehen, wie Beobachter fürchten – ohne Scheidungsvertrag aus der Union? Die Mehrheit der Parlamentarier lehnt diesen von den Brexit-Hardlinern geforderten politischen Kamikaze-Kurs ab, für die Wirtschaft gilt das Szenario ohnehin als Katastrophe.
Brexit bis zum Jahresende verschieben?
Denn das bedeutet: Keine Übergangsphase, keine Regelungen zum Status der EU-Bürger, keine Handelsvereinbarungen, kein rechtlicher Rahmen für buchstäblich nichts. Um diese Default-Option zu verhindern, will eine Gruppe um die Labour-Abgeordnete Yvette Cooper am heutigen Dienstag im Unterhaus über einen Antrag abstimmen lassen, nachdem der Brexit bis zum Jahresende verschoben würde, wenn es bis Ende Februar keine Lösung gibt, keinen Ausweg aus der aktuellen Patt-Situation. Damit wollen die vornehmlich europafreundlichen Kräfte vermeiden, dass es zu einem ungeordneten Brexit ohne Deal kommt. Es wäre eine Revolte gegen die Regierung.
Ob Coopers Vorschlag zur Abstimmung angenommen wird, entscheidet der Unterhaus-Sprecher John Bercow. Dasselbe gilt für den anderen Antrag, der seit Tagen auf der Insel diskutiert wird und der die Richtung von Mays Brexit-Kurs verändern könnte. Der konservative Abgeordnete Graham Brady, Vorsitzender des einflussreichen, fraktionsinternen "1922 Committee", will mit seinem Vorschlag erreichen, dass das Parlament den ausgehandelten Vertrag im Februar billigt – unter der Voraussetzung, dass der ungeliebte Backstop bis dahin gestrichen wird.
May möglicherweise bald vor fast unmöglicher Mission
Die umstrittene Rückfallversicherung soll im Notfall gewährleisten, dass es nach dem Brexit zu keiner harten Grenze zwischen der Republik Irland und dem zum Königreich gehörenden Nordirland kommt, um den Friedensprozess nicht zu gefährden. Das Austrittsabkommen sieht auch nach der Übergangsphase den Verbleib des gesamten Königreichs in der Zollunion vor, wenn bis dahin keine langfristige Lösung gefunden wird, die eine harte Grenze ausschließt. Die EU-Skeptiker fürchten, auf ewig an die Gemeinschaft gekettet zu bleiben, ohne eigene Handelsabkommen abschließen zu können. Viele beharren deshalb darauf, dass jedes Provisorium ein festes Enddatum haben oder einseitig aufkündbar sein muss. Das lehnt die EU vehement ab. Andere wollen die Backstop-Regelung ganz vom Tisch sehen.
Sollte am Abend die Mehrheit der Abgeordneten für den Antrag von Graham Brady stimmen, stünde May vor einer fast unmöglichen Mission. Denn der Standpunkt in Brüssel bezüglich des Backstops hat sich keineswegs verschoben. Dort beharrt man auf der Auffanglösung – auch weil Brady keine konkreten, praktikablen Ideen unterbreitet, wie denn eine harte Grenze auf der irischen Insel verhindert werden könnte. Er fordert vielmehr in nebulösen Worten, "alternative Arrangements" zu finden, um Zollkontrollen auszuschließen.
Kommt ein Freihandelsabkommen mit der EU?
Das Problem für Brüssel: Niemand weiß, welchen Deal Theresa May durch das Parlament bekommen würde, da es bislang für keinen Vorschlag eine Mehrheit gibt. Wozu also Konzessionen anbieten? Auch wenn die EU unaufhörlich betont, dass das Vertragspaket nicht noch einmal aufgeschnürt werden könne. Die Meinung in Brüssel könnte sich unter Umständen ändern, sollte sich endlich, mehr als zweieinhalb Jahre nach dem EU-Referendum, eine Mehrheit um einen Brexit-Kurs gebildet haben.
Am späten Montagabend schien es zunächst danach auszusehen. Einige europaskeptische Hardliner um den Konservativen Jacob Rees-Mogg wollen gemeinsam mit EU-Freunden wie der Abgeordneten Nicky Morgen einen Kompromiss-Vorschlag einbringen, der eine Lösung anbietet, sollte May in Brüssel mit Nachverhandlungen zum Backstop scheitern.
Ihr Plan sieht vor, die Übergangsfrist um ein Jahr bis Ende 2021 zu verlängern und in jener Zeit ein Freihandelsabkommen mit der EU zu beschließen. Dafür soll der Backstop komplett vom Tisch. So viel zur Theorie, denn in der Praxis wurde diese Option längst durchgespielt. Chef-Unterhändler Michel Barnier hat jedoch stets betont, dass zunächst das Grenz-Problem gelöst werden müsste, bevor die Gespräche um die Zukunft der Beziehungen beginnen können. Ohne Backstop keine Verhandlungen. Zurück auf Anfang.
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